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Artikel vom 17.10.2005

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J.-P. Lienhards Lupe

«Ekel erregendes Dreckszeugs»

«Zu Lebensmitteln verarbeitete Schlachtabfälle» sollen von Bayern auch in die Schweiz gelangt sein - ein «Skandal», der wohl keiner ist

Von Jürg-Peter Lienhard



Was soll daran schon «ekelerregend» sein: Frischer Saumagen vom Land-Metzger - gefüllt nach Elsässer Art, ein Leckerbissen für den Festtag.



MÜNCHEN.- Schröcklich «Ekel erregendes» meldete der Bayerische Umweltminister mit dem Schmunzeln erregenden Namen Schnappauf dieser Tage via dem deutschen «Zollkriminalamt»: Nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft soll ein bayerischer Geschäftsmann tonnenweise «Schlachtabfälle» zu «Waren für den menschlichen Verzehr» umdeklariert und auch in die Schweiz geliefert haben.

Was sind eigentlich «Schlachtabfälle»? Ich übergehe bei dieser Frage bewusst alle Gesetze und Verordnungen, die, «auf der Höhe der Zeit», eben den Begriff jeweils «zeitgemäss» umschreiben und den Sinn dem Wandel der Gesellschaft entsprechend enger fassen. Denn: Was «Schlachtabfälle» sind, ist keine Interpretationssache, denn «Schlachtabfälle» gibt es nicht!

Nichts an einer Sau war jemals «Schlachtabfall», also etwas, das man fortwarf oder verbrannte. An einer Sau kann man alles, wirklich alles verwerten. Angefangen bei den Borsten, die dem eben so genannten Borstenvieh nach der Tötung (ja: Tötung!) weggeschrubbt werden und die so beliebten «Natur-Bürsten» ergeben. Dann kommen die Klauen dran, die man mit einem Haken wegzieht und man daraus Knöpfe machen kann, wie sie bis nach dem Weltkrieg beim Schweizer Militär und für einheimische Textilien Verwendung fanden. Und auch das Blut - es gibt die Blutwurst…

Gastro-Tempel serviert «Schlachtabfälle»

«Öhrli mit Schnörrli» - manchmal gibts das bei «Metzgete» auf dem Land auf den Tisch: Ohren, Nasen und Mund sowie das Zünglein der Sau - entweder gekocht oder geröstet. Auch für den Schweinskopf - jeweils, hau ruck, mit dem Beil halbiert - gibts ein Rezept.

In eine deftige Erbsensuppe gehört ein Schweinsfuss oder «deren Zwie» (wie Luther, allerdings in anderem Zusammenhang sagte); in den elsässischen «Bäckeoffa» gehört obenauf ein Sauschwanz; der elsässische «gfillte Söïmage» bedeutet eine Heidenarbeit, ist aber ein christlicher Genuss. In Paris ist der «Pied de Cochon» ein weltberühmter Gastro-Tempel, dessen Hausspezialität schon der Restaurant-Name nennt.

«d'Saiblootere» als Ersatz für PET-Flaschen?

«Röschti mit Lääberli» war bis vor jüngst der «Goldesel» der Basler «Hasenburg», wo aus Kostengründen vor allem die Schweinsleber verwendet wurde. Und das lediglich gekochte «Gnagi», die Schweinswade, war ja bis vor kurzem auch in vielen Beizen des Kleinbasels ein Donnerstag-Schmaus.

Dann verwendet, wer im Familiengarten die Sense benützt, den Sau-Bauchnabel. Mit ihm kann man die Sense vortrefflich gegen Rost schützen, zumal der Nabel nicht durchtrennbar ist. Die getrocknete Urinblase kann man aufblasen und sie als «Saiblootere» an der Basler Fasnacht den Leuten über den Kopf hauen. Sie konnte früher aber auch als praktisches Gefäss dienen; sie wäre noch heute umweltverträglicher als viele Wegwerfflaschen-Produkte.

Wie lange noch ist «Whiskas» erlaubt?

Und was ist mit Kutteln, Herz und Lunge, Euter, Hirni, Kaninchen-Köpfe? Zurzeit gelten diese ehedem als Leckerbissen geschätzten Fleischteile als «für den menschlichen Verzehr nicht geeignet». Für den Bayerischen Umweltminister Schnappauf ist es jedoch «Ekel erregendes Dreckszeugs», das nur Hunden und Katzen verfüttert werden darf. Wie lange dauert es denn noch, bis diese «Schlachtabfälle» auch unseren Lieblingen in den eh schon überteuerten «Whiskas» oder «Sheba» noch verfüttert werden dürfen?

In der Migros oder bei Coop gibts schon lange keine Kutteln mehr; Kaninchen kann man nur in Einzelteile verhackt - ohne Kopf - kaufen. Zerhackte Kaninchen sind sowieso gegen jede Regel der gelernten Fleischerkunst! Euter, ob gekocht oder geräucht, gibts immerhin noch im Aostatal; die Metzgereiverkäufer der Grossverteiler wissen nicht einmal, dass eine Kuh einen Euter hat…

Kein Hirni für Hirnlose

Hirni mit dunkel angeschwitzter Butter war bis vor wenigen Jahren im Basler «Stadthof» die Hausspezialität; der Kaninchenkopf ist für Kenner das Beste am gebratenen Hoppler; der Labmagen der Kuh wird zu Kutteln «à la Provençale» oder an einer Weissweinsauce hergerichtet; ein Kalbsherz ist ein Leckerissen; ein…

Hingegen müssen in die Schweiz aus aller Welt Tonnen von Entrcôtes und andere teure, nicht «Ekel erregende» Fleischstücke importiert werden, während in den Herkunftsländern die Leute dort eben diese «Ekel erregenden» Teile als Spezialitäten den Touristen auftischen…

Der Skandal ist: Die heutige verfressene Gesellschaft weiss nicht, was Hunger ist…

Oder: der französische Philosoph Michel de Montaigne stellte schon im 16. Jahrhundert fest: «Nicht die Dinge an sich, sondern die Vorstellung davon, verursacht den Menschen Pein»…


Beispiels-Rezept für Kalbshirn

(aus Henriette Davidis: «Praktisches Kochbuch» in «Projekt gutenberg.de» - Link siehe unten)


Kalbshirn

Für 4 Personen 2-3 Kalbshirne. Die Kalbshirne werden gebrüht, von allen Häuten befreit und kalt nachgewaschen. - Dann tut man sie in einen Tiegel mit zerlassener Butter, streut Salz und eine Prise Pfeffer darüber und bratet sie, bis sie weiß und fest sind wobei man sie in kleine Stücke zerhackt.

Oder:

Man legt die (gemäss oben beschrieben) vorbereiteten Kalbshirne in kochendes Salzwasser, worin man sie etwa 10 Minuten kochen läßt. Dann werden sie mit dem Schaumlöffel herausgenommen und auf ein Brett gelegt. Nach dem Erkalten schneidet man jedes in 3-4 Scheiben, bestreut sie mit ganz wenig weißem Pfeffer, wendet sie in Mehl, Ei und geriebener Semmel um und backt sie in Butter schön gelb.


Original der «Fleischskandal-Meldung»

Fleischskandal mit Schlachtabfällen

München. Zu Lebensmitteln verarbeitete Schlachtabfälle sollen von Bayern aus europaweit verschoben worden sein. Nach Auskunft des Zollkriminalamts gerieten umdeklarierte Schlachtabfälle auch in die Schweiz. Nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft soll ein bayerischer Geschäftsmann tonnenweise Schlachtabfälle zu «Waren für den menschlichen Verzehr» umdeklariert haben. Die Ladungen seien auch nach Italien, Österreich und Frankreich gelangt sein. Bayerns Umweltminister Werner Schnappauf sprach von «Ekel erregendem Dreckszeug». Eine Gesundheitsgefährdung bestehe aber nicht, da die in Lebensmittel gelangten Abfälle hoch erhitzt verarbeitet worden seien. Die Schlachtreste hätten nur zu Hunde- oder Katzenfutter verarbeitet werden dürfen. DPA



Nachwort

Selbstverständlich soll der Konsument vor gesundheitsgefährdenden Machenschaften von skrupellosen Geschäftemachern behütet werden. Verdorbenes Fleisch ist jedoch nicht dasselbe wie «Schlachtabfälle», dessen Definition eben mit dem Wandel der Gesellschaft und den Moden der «Weight Watchers» und Konsorten einhergeht und somit eben auch ein Spiegelbild der verwöhnten Zivilisation abgibt. Oder die Absurdität einer überzivilisierten Gesellschaft vor Augen führt, die einerseits im Gesundheitswahn alles zu «Schlachtabfällen» deklariert, was nicht vom teuersten Teil des Viehs stammt, jedoch immer fetter und unbeweglicher wird… Notabene, während ganze Völkerstämme Hungers sterben oder mangels fehlender Proteine chronisch unterernährt sind!
Dass heute Teile der Tiere nicht mehr verwendet werden können, wegen BSE z.B., das ist ein anderes Thema, wenngleich auch eines der skrupellosen Profitmaximierung und der Entfremdung der Nahrung. jpl.


Von Jürg-Peter Lienhard

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Rezept für Kalbshirn

• Der Papst und die Titten: Euter-Spezialität im Aosta-Tal


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