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Artikel vom 09.11.2008

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Elsass - Kultur

Claude Vigées Stunde

Der multikulturelle Poet sprach aus Anlass des Erscheines seiner umfassenden Anthologie «Mon Heure sur la Terre» in Mulhouse vor eindrücklich zahlreichem Publikum

Von Jürg-Peter Lienhard



Multikultureller Elsässer mit gobaler Weitsicht: Claude Vigée, grossartiger Erzähler, Poet und analytischer Beobachter der Gesellschaft, an seiner Lesung in der Mülhauser «Société Industrielle» (SIM). Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2008


Der französische Schriftsteller Claude Vigée (87) hielt am Mittwoch, 5. Oktober 2008, in der altehrwürdigen Société Industrielle (SIM) von Mulhouse (Elsass) vor grossem Publikum eine Lesung und Vortrag über seinen Lebenslauf. Der höchst agile Poet beobachtet die abendländische Gesellschaft mit einem analytischen Auge, das er zumeist unfreiwillig im Durchgang seiner verschiedenen Heimaten im Abend- und Morgenland geschärft hatte. Seine Gedichte und Erzählungen sind daher von grösster politischer Brisanz, wenngleich sie auch im Gewand des individualistischen Poeten gekleidet sind.



Im Elsass und auch anderswo nicht selbstverständlich, wenn es um Poesie geht: Der beinahe voll besetzte Vortragssaal und ein ungeteilt aufmerksames Publikum. Foto J.-P. Lienhard, Basel © 2008

Vigée erzählte zunächst den erstaunten und zugleich amüsierten Zuhören, dass der «Mischling» Obama via seine Grossmutter nicht nur Wurzeln im Elsass, sondern in Vigées unterelsässischem Heimatort Bischwiller habe. So kennt der Schriftsteller einen in Bischwiller ansässigen Genealogen, der die Gemeinderodel durchforstet und einen aufsehenerregenden Fund gemacht hat: Die kürzlich verstorbene (weisse) Grossmutter des neuen US-Präsidenten Obama, Madelyn Dunham, ist durch ihre Ahnen namens Goodknight mit der Bischwiller Familie Gutknecht verwandt. Laut dem Ahnenforscher sei ein Abkömmling der Bischwiller Gutknechts 1759 nach Pennsylvania ausgewandert und habe seinen Namen an die englische Aussprache angepasst. (Auch der US-Präsident Eisenhower hat Ahnen aus dem Elsass, aus der Gegend von Biederthal im Sundgau, wo die dortigen Abkömmlinge, die hierzulande Eisenhauer hiessen, allerdings verschwunden sind.)

Der grosse Festsaal der SIM war praktisch voll, als der Chefredaktor der südelsässischen Zeitung «Journal l'Alsace», Francis Laffon, seinen aus Paris hergereisten berühmten Gast Claude Vigée auf dem Podium für die Lesung begrüsste. Die SIM wurde einst in demselben Sinne gegründet wie in Basel die Christoph-Meriansche Stiftung: Sie ist eine sozial-kulturelle Institution der Industriegründer Mülhausens, die sich im 19. Jahrhundert in demselben pietistischen Geist für Wohltätigkeit eingagierten, wie ihre protestantischen Basler Verwandten.

Vigée kam gleich zur Sache, zumal auch Laffon keine umständliche Einführung gab: Vigée ging vom Scherbenhaufen aus, die der Brandstifter Bush in der orientalischen und damit auch in der abendländischen Welt angerichtet hatte und auf dem nun Obama quasi aufräumen oder neu bauen sollte. Vigée beurteilte die Wahl Obamas gewissermassen als Neuorientierung einer Gesellschaft, die sich zum Egoismus und Ideologismus verführen liess, wie die Leute von Hameln von den Flötentönen des Rattenfängers.



Sie wären überflüssig gewesen, die beiden Moderatoren links und rechts vom Poeten Claude Vigée, dem man stundelang zuhören könnte. Foto; J.-P. Lienhard, Basel © 2008


Claude Vigée hat das Publikum gefesselt und mit seiner unglaublich lebendigen und spannenden Art zu erzählen, seine beiden Moderatoren, Laffon und den Ressortchef «Mulhouse» Raymond Couraud, glatt überflüssig gemacht; Couraud gar konnte keine einzige Frage anbringen… Vigée beantwortete alle Fragen selbst, nicht aus sakrosankter Prominenz, sondern in der Logik der Erzählweise, die das grossartige Können des Schriftstellers ist, und der keinen Augenblick den Anschein greiser Zerbrechlichkeit aufkommen liess. Anlass war übrigens das Erscheinen des auf Bibel-Dünndruckpapiers herausgekommenen Gesamtwerkes seiner poetischen Werke «Mon Heure sur la Terre - Poésies complètes 1939-2008».

Der Preisträger bedeutender Auszeichnungen, unter anderen der Hebel-Preis, ist 1921 im protestantischen unterelsässischen Bischwiller nördlich von Strassburg als Claude Strauss in eine jüdische Tuchhändler-Familie geboren worden, die in diesem von der Textilindustrie geprägten Ort schon viele Generationen ansässig war und sowohl die spezielle Abart des Jiddischen, das «judéo-alsacien», wie auch das Unterländisch-Elsässisch sprach.

In der Schule wurde er auf Deutsch in die deutsche Literatur und auf Französisch in die französische eingeführt. Das Englische kam dazu, als er zunächst nach Vichy-Frankreich und später nach USA emigrieren musste, wo er in Romanistik promovierte und an mehreren Universitäten des Landes lehrte. Nur dem «Amerikanischen» in Sprache und Lebensart verweigerte sich der grosse Liebhaber englischer Literatur. Und auch mit dem Hebräischen hatte er Mühe, jedoch allein, weil diese Sprache absolut keinen Bezug zu den europäischen hat, es aber 40 Jahre lang lernen musste, als er nach Jerusalem emigrierte. Nun lebt und arbeitet er in Paris.

Vor noch nicht ganz zwei Jahren verstarb seine Frau, über deren Verlust er ein französisches Gedicht verfasste, ein «Gelegenheitsgedicht», wie Goethe solche Art Poesie als Reflexion zu einem «Anlass» nannte, und das den sehr intimen Schlusspunkt der Lesung abgab und Wehmut über den Verlust und Ahnung von Vergänglichkeit meinen könnte.

Vigée ist seinen Angaben zufolge keineswegs der Landjude, wie er bislang und vor Erscheinen dieses Artikels fälschlich auch auf wikipedia.de bezeichnet worden war (ist jetzt auf wikipedia.de korrigiert). Vielmehr kam er als Abkömmling der Tuchhändler in engen Kontakt mit den ortsansässigen Landjuden, von denen er Sprache und Ausdruck annahm. Eben das «judéo-alsacien», das Jiddisch-Elsässische. Er faszinierte spürbar das Mülhauser Publikum, das mentalitätsmässig doch weit von Vigées nordelsässischer Heimat und seines «Dialekts» entfernt ist, aber sich gleichwohl in der von Vigées betonten textilen Herkunft wiedererkennen konnte. Zumal Vigée immer wieder Heiterkeit mit eingestreuten träfen elsässischen Ausdrücken erregte und einige Gedichte auch in seinem Unterländer-Idiom zweisprachig vortrug.

Nicht nur sein Erzähltalent macht die Faszination Vigées aus, sondern seine besondere Sicht der Dinge, zumal der politischen, die er aus dem Zusammentreffen der grossen jüdisch-christlich-abendländischen Kulturen im europäischen Schnittpunkt Elsass schöpft - gewissermassen als ein interkultureller Grenzgänger. Wie nirgends sonst in Europa trifft dies auf das Elsass zu, das immer wieder grosse Geister hervorbrachte. Weil die lebensfreudige Mentalität die Toleranz in einem ganz entscheidenden Mass gefördert hat: Die Juden hatten ihren Platz wie ebenso die Aussenseiter Täufer und die Amischen.

Doch dann kamen die Nazis!

Was Vigée erzählte, das konnte man gut spüren, war dieses stete Quentchen Misstrauen gegenüber dem politischen Zustand der Gesellschaft, die sich eben doch stets unberechenbar wandelt. Für weniger hellhörige Zeitgenossen manchmal plötzlich und unvermittelt, obwohl durch diskrete Zeichen längst angekündigt. Der Jude Vigée musste das zuerst am eigenen Leib in seiner geliebten elsässischen Heimat lernen. Aber dafür hat er alle seine Sinne diesbezüglich geschärft bekommen - bis heute! Ihm gab Gott zu sagen, was er litt und an der folgenträchtigen Dummheit mächtiger Politiker leidet, kann man frei nach Goethe die Aussage seines Werkes überschreiben.

Vigées Poesie erregt mitunter Schmunzeln, obwohl sie nur zu oft genau aus dem Gegenteil von Humor und Lustigkeit entsteht - einfach durch die Schlussfolgerung, die so logisch wie biologisch und daher eben so verständlich ist, als seien die Schlüsse einem selber eingefallen! Darum darf man auch Schmunzeln, wenn Vigée voller hinterlistigem Charme erwähnt, dass «göttlich» nur sei, wer die «Göttlichkeit» in sich trage… Oder beim Erwähnen des treuherzig-naiven Ratschlags, den er als Knittelvers bei seinem elsässischen Lehrer für deutsche Literatur namens Schmalz gesagt bekam: «Wer den Dichter will verstehn, muss nach des Dichters Lande gehn»… Oder dieser ironische Satz, der nur einem Gelehrten wie Vidée zusteht, und der ihn gerne an das Ende einer längeren Erklärung als Pünktchen aufs «i» setzt: «Saovir, c'est une chose, connaîre une autre.»

Unglaublich auch für die heutige Zeit, aber zumal ein grosses Kompliment an die Mülhauser: Vidées Vortrag und Lesung dauerte gut zwei Stunden. Zwei Stunden ohne Räuspern und Husten, in mucksmäuschen stiller gespannter Aufmerksamkeit und ohne «Pipi-Abgänger». Das Ende war kein Aufatmen oder Erlöstsein, nein, ich glaube, die meisten hätten gerne locker noch eine Stunde weitergehört! Vigée liess keinen Moment der Langeweile aufkommen, erzählte nie ein «déjà-connu» und war top-aktuell, was Gegenwart, und klug-gelehrt, was Vergangenheit betraf.

Die Leichtigkeit seines Vortrages, der voller Rückblenden war, aber stets vorausgerichtet - was wie ein Widerspruch tönt, im jüdischen Sinne aber folgerichtig ist - nämlich, dass man nur in die Vergangenheit «sehen» kann, nicht aber in die Zukunft - war voller schwergewichtiger Brocken, die man durch den Charme des Erzählers zunächst überhören, aber sie gleichwohl nicht fertig schlucken konnte. Nicht zu Reden von Verdauen: Die Bibel als «Gesangbuch» der Sprache, die Bibel mit ihren poetischen Bildern und üppigen Gemälden, sind für Vigée Quell einer metaphorischen Sprache von unerhörter Schönheit und Eindrücklichkeit.

Claude Vigée ist bei uns in der Schweiz unbekannt, das heisst nicht ganz: Der aus dem Aargau stammende und in Basel lebende Theaterautor und Schriftsteller der Gattung literarischer Krimi, Hansjörg Schneider, sagt von ihm: «Er ist ein ganz Grosser!».




Umschlag des soeben bei Galaade Editions herausgekommenen poetischen Gesamtwerks Claude Vigées: Die fünf Worte des Titels sagen schon alles, zumal alles über Vigées Bewusstsein.



Der erhobene Zeigefinger täuscht, auch wenn Vigée ihn immer wieder aufhebt: Er bedeutet stets ein «Aber» und nicht ein «Achtung». Das «Aber» folgt jeweils auf die «Auslegeordnung», wenn sie falsch ausgelegt werden könnte. Auf dieser Foto mag man freilich vermuten, dass der Zeigfinger eine ganz andere Geste andeuten will, wozu Vigée beim Blick auf seine Biographie ja wahrlich öfters Mal Gelegenheit gehabt hatte… Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2006»


Von Jürg-Peter Lienhard

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Mehr über «Mon Heure sur la Terre» (frz.)

• Mehr über Claude Vigée auf Wikipedia deutsch

• NZZ berichtete über Würth-Preis

• Liste der Hebel-Preisträger (Vigée: 1984)


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