Anzeige:
Abschaltung

Artikel vom 27.03.2007

Druckversion

Mit Stumm unterwegs

Mord und Totschlag

«Orestie» - für Goethe das «Kunstwerk der Kunstwerke» - ab 27. April 2007 am Goetheanum Dornach und im Juni im Antikenmuseum Basel

Von Reinhardt Stumm



Erinnye im Blut: «Durch eignen Frevel ziehen sie sich Unheil zu.» Alle Fotos: Goetheanum, Dornach @ 2007


Recht geht vor Rache, lehrt die «Orestie» des griechischen Dichters. Gibt es ein Recht auf Rache? Das fragte Aischylos vor über zweitausend Jahren. Fragen lassen sich beantworten. Die Wirklichkeit geht eigene Wege. Die «Orestie» ist am Goetheanum zu sehen – bilderreich, bewegt und bewegend.



«Den Mann, von dem Du erzählst, hat die Vergeltung erreicht.»




Und der Bote bestellte: Führe den Mord nicht aus!


Ich weiss nicht, wie es mir geht. Ich schreibe seit ungefähr 40 Jahren Theaterkritiken – und komme mir manchmal wie ein blutiger Anfänger vor. Weiss nicht, wo anfangen, weiss nicht, wo aufhören. Lese die Stücke, die ich nachher auf der Bühne sehe, und das kalte Entsetzen packt mich. Ich träume schlecht. Ich weiss heute, was ich früher nicht wusste; ich weiss, dass die entsetzlichsten Phantasien der Autoren wahr sind. Ich fange an zu verstehen, was Theater einmal war – Suche nach Weltverständnis -, was es ist – Ersatzhandlung -, was es eigentlich nicht sein dürfte – Unterhaltung. Die Wirklichkeit lacht über die Phantasien der Autoren, absurde Phantastereien.

Wenn ich die «Orestie» des Aischylos lese, wenn ich Theatergeschichte resümiere, wenn ich zu verstehen versuche, was ich gelesen habe, würde ich am liebsten davonlaufen. Aber wohin? Mord und Totschlag, wo immer ich hinschaue. Angst und Trauer, kaltes Grauen. Keine Phantasie reicht aus, den alten Geschichten zu folgen, und ich verstehe jeden, der sich mit Händen und Füssen dagegen wehrt, sie auch noch freiwillig und zum Vergnügen anhören und ansehen zu müssen.

Nein, es ist kein Wunder (und sei es noch so unvorstellbar), dass die Bürger einer Stadt die Götter vor Gericht ziehen und Rechenschaft fordern, auch wenn Zeus, wie hier in der Odyssee, darüber staunt:

Zeus sann lange dem Sturz des Ägisthos nach, des erlauchten,

Den Agamemnons herrlicher Sohn Orestes erschlagen.

Sinnend sprach zu den Ewigen jetzt der unsterbliche Vater:

Seltsam, dass uns Götter die Sterblichen immer verklagen,

Alles Üble komme von uns; durch eigenen Frevel

Ziehn sie sich Unheil zu, weit mehr, als ihnen verhängt ist.

Hat doch Ägisthos auch aus eigener Schuld Agamemnons

Weib zur Ehe verführt und den mächtigen König ermordet,

Als er von Ilion kam. (Odyssee, I,27-35)


Aischylos kommentiert das ein bisschen anders! Und Klage wie Anklage liessen sich lesen als Akt der Verzweiflung, als eine Handlung, der das Bewusstsein zugrunde liegt, dass es kaum schlimmer werden kann. Hat nicht der Schluss ein bisschen Happy Ending-Charakter? Es muss doch so etwas wie verzweifelte Hoffnung sein, wenn die Bürger von Athen sich ausmalen, wie es wäre, wenn die Götter schlechtes Gewissen hätten und Wiedergutmachung anböten. Denn das ist doch das Ende der «Orestie» – die Göttin Athene verwandelt blutrünstige, kreischende Erinnyen in Schutzengel, denen sie die Wohlfahrt Athens anvertraut.

Das eine ist, dass wir die Geschichte als Geschichte lesen, als Literatur, als Dokument. Woher kommt sie, wann entstand sie, was bedeutete sie. Sachlich, kühl, wissenschaftlich. Zeugnisse werden gesucht, die Entwicklung eines Mythos (das heisst: Erzählung) wird nachvollzogen.

Das andere ist, dass wir beteiligt werden an Erzählungen, die sich irgendwer einmal ausgedacht hat – und wir fragen uns, weshalb? War er krank? Psychisch defekt? Fehlte ihm was? Was macht, dass andere gerade diese grauenhaften Geschichten (es sind doch die meisten) gesammelt, gehütet, aufbewahrt und sich immer wieder in Erinnerung gebracht haben?

Wenn wir lesen, wie in Athen Theater gespielt wurde, stellen wir und das ungefähr so vor, wie Fussball heute. Ehrgeizige Wettbewerbe, die formale Kriterien erfüllen mussten. Aber wir wissen so gut wie nichts davon, was die Menschen erlebten, die in jenen Theatern sassen. Erkannten sie sich wieder? Ihre Geschichte? Ihr gesellschaftliches Umfeld? Gingen sie erfüllt, befriedigt, erhoben nachhause? Oder schlichen sie verängstigt, furchterfüllt, hoffnungslos davon? Erlebten sie das Ende der «Orestie» als eine Art freundlichen Versprechens, als Trost (dem niemand wirklich glaubte)?

Auch Aischylos hat ja nur nacherzählt. Wer hat die Geschichten erfunden und warum? Wer wiegte bedächtig das Haupt beim Anhören der Auseinandersetzung darüber, welche Art von Mord verwerflicher ist? Wer senkte demütig das Haupt bei Apollons hochmütigem Bekenntnis, dass er den Mord befohlen habe?

Eigentlich müssen einem die Haare zu Berge stehen! Wenn sie es nicht tun, dann nur deshalb, weil wir die Geschichten, die wir lesen, natürlich nicht für bare Münze nehmen.

Wir sind längst ausgewiesen aus den Hoheitsgebieten, in denen Antworten auf derlei Fragen zu finden sind. Wenn Goethe die «Orestie» zum Kunstwerk der Kunstwerke erklärte, dann durfte er das, weil er die «Orestie» kannte – will sagen: genau kannte. Aber auch jene anderen Kunstwerke, über die er sie erhob. Wir dürfen zudem sicher sein, dass Goethes Erklärung über das Formale (wie ist es gemacht?) hinausreicht und auf das zielt, was uns (wie ich fürchte) entglitten ist: Hier ist der Mensch gemeint. Der Mensch, der ist, und jener, der sein sollte und nicht ist.

Schubweise Gedanken zum Text, zu den Textstücken, von denen die Gedanken wegrutschen, irgendwohin – und während der Vorstellung keine Zeit, sie zu irgendeinem Ende zu denken. Die Vorstellung läuft weiter, irgendwo steige ich wieder ein, keine Brücke von vorher zu jetzt. Dafür kann das Theater nichts, dafür kann niemand – wir haben diese Texte verloren. Selbstverständlich gehören sie (man muss diesem «selbstverständlich» nachhören!) zu unserem Kulturgut, wie alte Bücher, die in ehrwürdigen Bibliotheken stehen und gelegentlich entstaubt werden.

Vielleicht müsste man sie jedes Jahr einmal spielen, damit man sie sich Zug um Zug neu aneignen könnte (du liebe Zeit, ja, da wären wir ja dann schon wieder in Athen). Das schüfe sicherlich eine tiefere Vertrautheit mit ihrer psychischen Motorik, die uns am Ende erlauben würde, die Grenze zwischen der Wahrnehmung materieller, formaler Qualität und spiritueller Bedeutung zu überwinden. Ein Vorgang, der nach meinem Verständnis mit Kultur zu tun hat (aber nichts mit Kulturbetrieb).

Was wir jetzt erleben, sind jene Stösse ins Bewusstsein, die Irritation, Zweifel, Ratlosigkeit erzeugen, keine Antworten. Neutralisiert werden sie mit bewährten Methoden – mit den Fragen nach der Qualität des Gemachten. Textfassung, Übersetzung, Inszenierung, Bühnenbild, Schauspieler. Leicht genug zu beantworten. Was bewertbar ist, sind die ästhetischen Qualitäten, das Künstlerische als das Machbare.

Davon weiss ich nur das Beste zu sagen. Die drei Teile heissen Agamemnon, Totenopfer und Eumeniden. Gespielt wird im Schreinereisaal, majestätisch der dreitorige Palast im Hintergrund, eine breite Treppe erlaubt eindrucksvolle Auftritte insbesondere für Barbara Stuten als Klytaimestra. Die Spielfläche auf einem grossflächigen Podest ist auf drei Seiten von Sitzreihen umgeben. Die Szene ist kühl, beherrscht, vom Licht modelliert.

Jobst Langhans führte Regie, saubere Arbeit ohne falsche Gefühligkeit. Die Chöre manchmal schwierig zu verstehen, Frage, ob sich das Problem lösen liesse durch wechselnde Einzelsprecher.

Die knapp viereinhalb Stunden (zwei lange Pausen) lassen sich gut überstehen. Erlaubt sei ein Verweis auf den sehr schönen Text von Joachim Daniel im Programmheft. Programmiert sind auch Einführungen von Joachim Daniel vor den Vorstellungen.




«Doch zähme den Groll, lass ab von der Rachsucht!»




«Drei Tore gibt es - nach Plato - zu durchschreiten.


VORSCHAU
Gastspiel «Orestie» im Antikenmuseum Basel


vom Donnerstag, 21. bis Sonntag, 24. Juni 2007
jeweils 19 Uhr

Zu gegebener Zeit Informationen über und weitere Angaben via Goetheanum, Dornach - Vorverkauf ab Ende April bei der Basler Zeitung, Aeschenplatz, Basel

Von Reinhardt Stumm

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• Spielplan-Informationen «Orestie» am Goetheanum


Klicken Sie hier, wenn Sie fortan bei neuen Artikeln dieses Autors benachrichtigt werden wollen!


Anzeige:

PlagScan



Nach oben


Copyright © 2003 by webjournal.ch

 

Die Funktion Newsletter ist wegen Spam blockiert. Schreiben Sie eine Mail an info(ad)webjournal.ch mit dem Betreff: «Bitte newsletter zusenden» Besten Dank für Ihr Verständnis.