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Artikel vom 21.03.2007

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Gast-Beiträge

Vergöttlichung der Leiblichkeit

Am 22. Oktober 2005 feierte die Basler Musikakademie im Münster ihren 100. Geburtstag. Hans Saner hielt die Festrede, die wir hier mit seiner freundlichen Erlaubnis ungekürzt wiedergeben

Von Gast



Hans Saner wurde 1934 im schweizerischen Grosshöchstetten geboren, studierte Psychologie, Germanistik und Philosophie und gab den wissenschaftlichen Nachlass seines Lehrers Karl Jaspers heraus. Er äussert sich oft und klar zu drängenden philosophischen und politischen Zeitfragen.


Gibt es eine Rechtfertigung der Welt durch die Kunst? - Zu Nietzsches These von der ästhetischen Rechtfertigung der Welt.

Meine Damen und Herren

In den früheren biblischen Kulturen hat die Schönheit des Leibes niemals die Welt gerechtfertigt. Eher noch bedurfte sie selber einer Rechtfertigung. Im Alten Testament werden zwar schöne Menschen genannt, und das Hohelied preist die schönste unter den Frauen, eine Schwarze, und ihren Freund in ihrer blühenden Leiblichkeit. Aber nahezu immer ist die gepriesene Schönheit Spiegel der Tugend oder der Auserwähltheit oder der vornehmen Herkunft. Für sich allein ist, so heisst es in den «Sprüchen», «lieblich und schön sein nichts» (31,30). Von der Schönheit der Frau wird gar gesagt: «Ein schönes Weib ohne Zucht ist wie eine Sau.» (11,22) Die Zucht aber legt über den Leib den Schleier der Scham, der nicht allein die Blösse des Leibes zudeckt, sondern auch die Zeichen der Hinfälligkeit aller Menschen verbirgt. Der Gott, der die Menschen nackt erschaffen hat, hat sich ihrer Nacktheit zwar nicht geschämt, aber doch erbarmt. Denn schon das erste Paar wurde durch die Erkenntnis, noch vor dem Fluch, von der Scham befallen, die nur noch ein Gnadenakt Gottes, das Geschenk eines Kleides, mindern konnte. Der sich erkennende Mensch hatte nicht mehr die Möglichkeit, sich in seiner leiblichen Schönheit ohne Scham anzunehmen.

Leibschönheit ist Geistschönheit

Das Neue Testament sagt von keinem einzigen Menschen, dass er schön oder lieblich sei, auch nicht von dem kleinen Jesuskind und nicht von seiner Mutter Maria. Das Schöne, das für die Griechen im Eros so eng mit dem Guten verbunden war, wird in den mittelalterlichen christlichen Philosophien in der Regel nicht unter die Transzendentalien aufgenommen. Es galt als zu eitel und zu vergänglich und stand unter dem Generalverdacht der Sündhaftigkeit. Insofern lag in der schönen Madonnen-Malerei der Zeit ein Zug des Heidnischen, sowohl durch das Gottes-Bild als solches als auch durch die feminine und oft so wenig mütterliche Schönheit der Maria. Erst als Thomas von Aquin die pulchritudo spiritualis und interior, die geistige und innerliche Schönheit, neben der leiblichen und äusserlichen zur Geltung brachte, konnte die Schönheit des Leibes selbst vom Klerus als Chiffre der geistigen Schönheit wahrgenommen werden. Aber der Schatten der Eitelkeit und der Verdacht der Sünde blieben an ihr haften. Eine andere Rechtfertigung der Welt dagegen war von allem Anfang an durch den biblischen Mythus gegeben, weil die Welt ja die Schöpfung Gottes war - nicht etwa das Werk seiner Hände, sondern seines Wortes und das bedeutete: seines Geistes. Der Gedanke, dass der eine und einzige, notwendig seiende, wahre, gute und alles vermögende Gott ein Pfuscher oder gar ein maligner Dämon sein könnte, war mit dem Glauben schlechthin unvereinbar. Gerechtfertigt war auch der Mensch: in der jüdischen Tradition als Geschöpf und als Ebenbild Gottes, in der griechisch-christlichen darüber hinaus als unsterbliche Seele - aber in beiden Traditionen nicht als künstlerisch Schaffender, der sich in seiner Freiheit dem Gehorsam entzieht, sondern als moralisch gut Handelnder und religiös inständig Glaubender. Die Rechtfertigung für das Dass seiner Existenz wurde ihm geschenkt, diejenige aber für das Wie seines Lebens, nach aussen im Handeln und Reden und nach innen im Glauben und Denken, wurde ihm abverlangt.

Nietzsche, der diese Kulturen bestens kannte, hat sich, im Gegensatz zu ihnen, früh für eine ästhetische Rechtfertigung der Welt entschieden. Schon in seiner ersten Schrift «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» (1872) steht der Satz: Nur «als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt» (KGA III,1;43). Gegen Schluss der Abhandlung verschärft er die Aussage noch: Die «Existenz selbst der „schlechtesten Welt“» (KGA III,1;150) *) sei durch das Miteinander von Musik und tragischem Mythus gerechtfertigt. Und noch in den spätesten Arbeitsjahren hält er fest: «Mit der moralischen Interpretation ist die Welt unerträglich.» (KOA XVI,262)

Der ganze Rechtfertigungsgedanke durchläuft mehrere Stufen. Er geht davon aus, dass es im Dasein und in der Welt überhaupt Hässliches gibt, und dass dieses Hässliche in seinen vielfachen Formen von Disproportion, Dissonanz, Schmerz; von Mangel, Ungenügen und Tragik das fundamentale Negative des Seins ist, das als Anreiz zum Schönen seine Rechtfertigung findet. Dieses Schöne zeigt sich anfänglich überwiegend, aber nicht ausschliesslich, in den Werken der Kunst, die uns allesamt das Leben erträglich und lebenswert machen, insbesondere die Werke der wenigen Genies. Im Gedanken der Erträglichkeit liegt aber bereits der Schritt in die physiologische Wende der Ästhetik. Das Schöne wird nun aus der Enge der Kunstwerke in die Weite der Natur und der Leiblichkeit des Menschen verlegt. Dabei transformiert Nietzsche den Kunstbegriff mehrmals und entfremdet sich von der klassischen Ästhetik immer mehr. Die Entfremdung führt schliesslich zu der späten Kritik der Kunst, der Künstler und des Genies. Von einigen dieser Schritte soll nun die Rede sein.

Die Frage: «Wie ist die Hässlichkeit der Welt möglich?» (SWA III,496) hat Nietzsche lange Zeit beschäftigt. Er gibt darauf im Verlauf der Jahre mehrere Antworten. Die früheste geht von dem Schopenhauerschen Pessimismus aus: Das Sein selber leidet unter seiner Widersprüchlichkeit (KGA III,1;34). Die Wahrheit über es ist an sich «hässlich» (KOA XIV,248). Sie zeigt überall «das Entsetzliche oder Absurde des Seins» (KGA III,1;53), die, bei uneingeschränkter Redlichkeit, «den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben» (KGA V,2;140). Die Welt vor der Kunst oder ohne sie kennt keinen Trost. Diese Trostlosigkeit aber ist einer der Ursprünge der Kunst: «Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehen.» (KOA XVI,248)

Wenn die Kunst aber einmal in der Welt ist, neigt sie als apollinische «zum Verharren in gleichen Formen» (SWA 111,496), um ihre Schönheit zu wahren. Als dionysische und ewig schaffende aber kann sie dies nur so lange, als die Formen sich mit den Inhalten oder mit dem Sinn decken. Wenn zwischen beiden ein Riss sich öffnet, wird die «angehäufte Kraft» den Schaffenden zwingen, «das Bisherige als unhaltbar, missraten, verneinungswürdig, als hässlich zu fühlen» (ibid.). In der Zerstörung des sinnlos Gewordenen zeigt sich dann der dionysische Trieb der Kunst und im Schaffen des Neuen seine Verbindung mit dem apollinischen. Die Hässlichkeit der Welt aber ist damit gerechtfertigt, dass sie den Bruch zwischen Form und Sinn anzeigt und zum Schaffen des Neuen anreizt.

Hass auf die Moderne?

Als Widerspruch von Form und Sinn aber ist das Hässliche schlechthin «der Widerspruch zur Kunst, das, was ausgeschlossen wird von der Kunst, ihr Nein» (SWA 111,753). Die Kunst ist für Nietzsche per se schöne und dadurch heilsame und erlösende Kunst. Im «Hervorbringen der Vollkommenheit» erreicht sie «ihre Daseins-Vollendung» (KOA XVI,247). Das Vollkommene aber ist für Nietzsche das in sich Ruhende, Hohe, Einfache und darin «Gleichbleibende» (KGA IV,3;92). Seine Darstellung ist das, «was alle Kunst will und nicht kann» (ibid.), weil ihre Ideal-biIdende Kraft» (KOA XIV,335) versagt. Gemessen am Ideal bringt insofern auch die Kunst selber Hässlichkeit hervor, wenn auch im guten Willen zum schönen Schein.

Die Objektivierung der Vollkommenheit im Gleichbleibenden trägt in Nietzsches Ästhetik unweigerlich einen konservativen Zug, der sich immer mehr mit einem «tiefen Hass» (KGA III,1;15) gegen die Moderne - Nietzsche sagt: gegen die «Jetztzeit» - verbindet. Den Pariser Malern - es sind vermutlich die Impressionisten - wirft er Moderne „Barbarei“» (KOA XIV,368) vor.

Die «Aufgabe der modernen Kunst» diffamiert er pauschal: «Stumpfsinn oder Rausch! Einschläfern oder betäuben! Das Gewissen zum Nichtwissen bringen, auf diese oder die andere Weise! Der modernen Seele über das Gefühl von Schuld hinweghelfen, nicht ihr zur Unschuld zurückverhelfen!» (KGA IV,1;35) Die modernen Künstler sind «dem Hysterismus nächstverwandt» (KOA XVI,241), und «unsere» Musiker, die, so höhnt er, «eine grosse Entdeckung gemacht» haben, dass nämlich «die interessante Hässlichkeit» auch «in ihrer Kunst möglich» (KGA V,1;202) ist, klagt er an, «die Geschichte der Verhässlichung der Seele» (ibid.) in Musik zu setzen, ohne es auch nur zu ahnen. Als Nietzsche dies schrieb (1881), lebten aus der älteren Generation in Deutschland und in der Donaumonarchie noch Brahms, Bruckner, Liszt und Wagner; aber die öffentliche Aufmerksamkeit wandte sich schon den ersten einer neuen Generation zu: Richard Strauss und Gustav Mahler.

Die Härte dieses Vorwurfs kann nur ermessen, wer die neue Bedeutung kennt, welche die Hässlichkeit durch die physiologische Wende in Nietzsches Ästhetik bekommt. Die physiologische Wende besteht darin, dass das Ästhetische funktional «der allgemeinen Kategorie der biologischen Werte» (KOA XVI,230) unterstellt wird. Das bedeutet: Die Theorien des l'art pour l'art sind für Nietzsche null und nichtig. Alle Kunst hat den Zweck der Lebensdienlichkeit und Lebenssteigerung. Das Hässliche wird fortan nicht mehr verstanden als Bruch von Form und Sinn oder als Versagen der idealbildenden Gestaltungskraft, sondern als Wirkung auf die Physis des Menschen. «Man kann die Wirkung des Hässlichen mit dem Dynamometer messen. Wo der Mensch überhaupt niedergedrückt wird, da wittert er die Nähe von etwas „Hässlichem”.» (KGA VI,3;118) Das Hässliche wird nun ein Symptom des Zerfalls und der Degenereszenz. «Jedes Anzeichen von Erschöpfung, von Schwere, von Alter, von Müdigkeit, jede Art der Unfreiheit, als Krampf, als Lähmung, vor allem der Geruch, die Farbe, die Form der Auflösung, der Verwesung - und sei es auch in der letzten Verdünnung zum Symbol - das alles ruft die gleiche Reaktion hervor, das Werturteil „hässlich“.» (ibid.) Ein Mensch, der dieses Urteil fällt, hasst «aus dem tiefsten Instinkte der Gattung heraus»; er hasst den «Niedergang seines Typus». Dies sei «der tiefste Hass, den es gibt. Um seinetwillen ist die Kunst tief...»(ibid).

«Die „Verhässlichung“ ist mithin die Zerstörung der Physis meines Typus, bis hin zur Gattung, und kann in keiner Weise gerechtfertigt werden. Das instinktive Gefühl und schliesslich das Urteil „das ist hässlich“ dagegen ist nicht nur gerechtfertigt, sondern funktional von grosser Bedeutung, weil es den Menschen von allem abwendet, was ihn kleiner macht. Rechtfertigen lässt sich auch der reaktive, aber tiefe Hass aus dem Instinkt der Gattung, weil er ein erheblicher Antrieb im Kampf gegen alle Strategien der Schwächung ist. Aus dem Bann dieses Hasses befreit allein die Kunst und das ebenso instinktive Gefühl des Schönen.»

Witterung für das Schöne

Das Gefühl der Schönheit wird in der Spätzeit achsialsymmetrisch zum Gefühl des Hässlichen bestimmt. Also muss man auch seine Wirkung mit dem Dynamometer messen können. Wo immer der Mensch auflebt und aufblüht, da «wittert» er die Nähe von etwas Schönem. Sein Gefühl der Kraft, der Freiheit, der Lebendigkeit und Beweglichkeit nimmt zu, und aus ihm fällt er das Urteil «schön». Am Objekt dieses Urteils findet er keineswegs bloss ein (Kantisches) «interesseloses Wohlgefallen», sondern durchaus ein interessiertes. Denn was er als schön empfindet, entspricht einem Bedürfnis, Nietzsche sagt gar: einem «Trieb»(KOA XIII,166). Alles Schöne wirkt dadurch auf die Sinne, die Muskeln und die Lebenskraft wie ein Versprechen auf ein höheres Leben. Nietzsche erinnert in der «Genealogie der Moral» an Stendhal, der vom Schönen gesagt hat, es sei «une promesse de bonheur» (KGA VI,2;365). So wie man der Held sein möchte, den man auf der Bühne bewundert (KOA XIII,166), so möchte man das Versprechen eingelöst bekommen und einlösen, das man im Schönen erahnt. Man möchte das Glück nicht bloss äusserlich haben, sondern in sich: man möchte glücklich sein. Das Schöne wird so zum Anreiz «der schöpferischen, auf uns selber angewendeten Kraft!» (ibid.). Wir sind dann zugleich Subjekt und Objekt der Kunst.

Solange Nietzsche das Schöne ausschliesslich innerhalb der Grenzen der herkömmlichen Kunst ansiedelte, konnte er Sätze der folgenden Art aussprechen: «Einzige Möglichkeit des Lebens: in der Kunst.» (KOA IX,82; 1870) Das ist wahrscheinlich nicht nur individuell zu verstehen im Sinn von: «Meine einzige Möglichkeit des Lebens...», sondern auch auf die Gattung zu beziehen: «Einzige Möglichkeit des Lebens für uns Menschen...» Denn drei Jahre später notiert er: «Nur die Kunst vermag uns zu retten.» (KOA X,178; ca. 1873). Beide Sätze sagen auf andere Art, dass es in der Kunst um nichts Geringeres geht als um den Niedergang, die Rettung und die Verwandlung des Menschen. Weil aber die Rettung ausschliesslich aus der Kunst kommen kann, musste Nietzsche die Frage aufwerfen, wie gross das Reich der Kunst denn sei.

Die Frage liess vorerst eine allgemeine Antwort zu: Das Reich der Kunst ist so gross wie das Reich des schönen Scheins. Ihr folgten aber vier differenzierende Nachfragen durch die Arbeitsjahre hindurch:

1. Gibt es andere Symbolbereiche, die vielleicht nicht den schönen Schein erzeugen möchten, aber es dennoch tun müssen, die also gleichsam wider Willen Kunst sind? - Schon die Logik ist, als Organisationsform der Sprache und des Denkens, eigentlich eine «künstlerische Anlage» (KOA IX,179), ein schöner Schein von Vorgängen, die weit chaotischer und, von den Impulsen her, unbewusster ablaufen. Die Wissenschaft schlägt ihrerseits «an den Grenzen der Erkenntnis» (ibid.) notwendig in Kunst um. Und jede Form der Weltauslegung, ob sie nun religiöser, philosophischer oder wissenschaftlicher Art sei, wird bestenfalls zum schönen Schein, wenn es absolute Wahrheit nicht gibt. Dann bedeutet «wahr» nicht viel anderes als «schön», nämlich «zweckmässig zur Erhaltung der Menschheit» (KOA XII,41). Das ästhetische Gefühl aber wird im Urteil «wahr» vom pragmatischen Zweck gleichsam erdrückt.

2. Ist die schöne Kunst notwendigerweise eine «Kunst der Kunstwerke?» (KGA IV,3;89) Nietzsche verneint die Frage mehrmals. Die Kunst hat noch andere Aufgaben als die Herstellung von Werken. Sie verschönert das Leben; sie verbirgt das vermeidbare Hässliche und gibt dem unvermeidbaren Bedeutung; sie ist dem Menschen eine Lehrmeisterin der Gesittung und macht ihn erträglich (KGA IV,3;89f.); sie schafft den Menschen über den Menschen hinaus (KOA XII,215). Im Verhältnis zu diesem «neuen Begriff der Kunst» (ibid.) ist die Kunst der Kunstwerke nicht die «eigentliche» Kunst, sondern «nur ein Anhängsel» (KGA IV,3;90).

3. Gibt es also Kunst, die «ohne Künstler erscheint»? (KOA XVI,225), ja künstlerische Gestaltungskraft jenseits des Menschen? Nietzsche war von Jugend auf überzeugt, dass «die künstlerische Lust» (KOA IX,191f.) auch ohne den Menschen vorhanden sein muss. Die «höhere Physiologie» begreift die künstlerischen Kräfte schon im Werden des Menschen und der Tiere. Sie wird sagen, «dass mit dem Organischen auch das Künstlerische beginnt» (KOA X,128). Dieses kann aber auch «ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers (KGA 111,1;26) aus der Natur hervorbrechen. «Die ganze Kunstkomödie» wurde insofern «nicht für uns» (KGA III,1;43) oder jedenfalls nicht für uns allein aufgeführt. Für den späten Nietzsche liegt gerade die «eigentliche» Kunst jenseits der bisherigen Künstler, die «kleine Vollender an einem Stoffe» (KOA XVI,225) waren.

Und 4. «Wie weit reicht die Kunst ins Innere der Welt»? (KOA XIV,366) Sie sickert langsam in das Innere ein, durchdringt und verwandelt es, bis in die Tiefe der biologischen Organisation. Das war Nietzsches ästhetisch-physiologischer Glaube. Die Schönheit der Kunst ist darin so etwas wie die Gegenkraft zur Entropie, zum chaotischen Zerfall aller sich schliessender Systeme, nämlich die durchformende Kraft der aufblühenden Schönheit, die neue Ordnung schafft.

In diesem «erweiterten Kunstbegriff» - 60 Jahre vor Beuys - ist «die Welt selbst nichts als Kunst» (ibid.), «ein Überschuss ... von blühender Leiblichkeit» (KOA XVI,229), der in die Symbole ausströmt und über sie Alle zu einem gesteigerten Leben stimuliert, die ihre Schönheit empfinden. Da aber kein Künstler diese blühende Welt in ihrer Fülle erschaffen kann, ist sie als Ganzes «ein sich selbst gebärendes Kunstwerk» (KOA XVI,225).

Dass die Welt dies zu sein vermag, ist ihre eigentliche Rechtfertigung. Durch dieses Vermögen - man kann auch übersetzen: durch diese Macht - wird die Geschichte der Natur zu einem Versprechen der Höherentwicklung der Menschheit.

Natur als Kunst

Teil an diesem sich selbst gebärenden Kunstwerk hat für Nietzsche zwar alles, was in der Welt in irgend einer Weise Gestalt annimmt: seien es Symbole, Dinge, Funktionen, Organisationen oder Lebewesen und deren Gemeinschaften. Aber das Wichtigste in ihm ist doch - um eine Wendung von Kant zu benutzen - «die grosse Künstlerin Natur» (AA VIII,360) und deren Lebensformen - innerhalb dieser aber, trotz gelegentlicher Bedenken Nietzsches, der Mensch als leibliches Wesen in seinem teils evolutionären, teils selbstschöpferischen Wandel.

Nietzsche entwickelt seine ästhetische Anthropologie streng «am Leitfaden des Leibes» (KOA XVI,125). «Das Phänomen des Leibes», so sagt er, ist «methodisch voranzustellen», weil es «das reichere, deutlichere, fassbarere Phänomen» (KOA XVI,16) ist als die Seele oder der Geist. Im Unterschied zu allem anderen Seienden erweist sich der Leib «immer weniger als Schein!» (KOA XIV,41). Er ist «unser gewissestes Sein»(KOA XVI,125): das Selbst, das wir nicht bloss haben, sondern sind.

Mit zunehmender «Ehrfurcht» (KOA XIII,165) und Bewunderung denkt und dichtet er den Leib: «Man kann es nicht zu Ende bewundern, wie der menschliche Leib möglich geworden ist: wie eine solche ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen…als Ganzes leben, wachsen und eine Zeit lang bestehen kann - und dies geschieht ersichtlich nicht durch das Bewusstsein! Zu diesem „Wunder der Wunder“ ist das Bewusstsein eben nur ein „Werkzeug“ und nicht mehr...» (KOA XIII,247f.)

Auch die Seele und der Geist sind bloss Werkzeuge des Leibes, und alles «Geistige» ist eine «Zeichensprache des Leibes» (KOA XIII,165). Gerade dadurch ist der Gegensatz von einer «reinen unkörperlichen Seele und einem Leibe…fast beseitigt» (KOA X,408). All den kleineren und kleinsten Wesen im Leib: von den Organen bis hinunter zu den Molekülen, weist Nietzsche als Werkzeuge auch ein eigenes Bewusstsein und eine eigene Seele zu. Der Leib als Ganzes ist deshalb «ein Gesellschaftsbau vieler Seelen» (KGA VI,2;27) und vieler Arten von Bewusstsein. Die «grosse Vernunft» in diesem Bau ist der Leib selber in seiner Natürlichkeit. In ihm ist mehr Vernunft, «als in deiner besten Weisheit» (KGA VI,1;36). Die «kleine Vernunft» ist der «Geist». Die grosse Vernunft redet «redlicher» und «reiner» (a.a.O. 34) und irrt sich nur selten; die kleine Vernunft macht sich und anderen manches vor, sogar dass der Leib gar nicht existiere. Das Problem der kleinen Vernunft ist «die ausserordentliche Irrtumsfähigkeit des Bewusstseins» (KOA XVI,137). Deshalb ist der Leib in seiner Ganzheit «etwas viel Höheres, Feineres, Komplizierteres, Vollkommeneres, Moralischeres» (KOA XIII,165) als die Werkzeuge seiner Teile.

Im Hinblick auf die Schönheit des Leibes sagt Nietzsche: «Was Schönheit betrifft, so steht seine Leistung am höchsten: und unsre Kunstwerke sind Schatten an der Wand gegen diese nicht nur scheinende, sondern lebendige Schönheit!» (KOA XIII,165) Bloss Schatten aber sind die Werke, weil ihre Künstler bei der «Oberflächen-Schönheit» (a.a.O. 166) geblieben sind, die den Sinn der Kunst nicht erreicht, Anreiz zur Erschaffung schöner Menschen zu sein. Sie haben auch keinen Weg gefunden, die Schönheit «noch in jedem inneren Vorgange des Leibes» (KOA XIV,131f.) erahnen zu lassen - und das liegt am Wesen der bisherigen Kunst selber, die an sich eine Oberflächen-Kunst war, eben eine Kunst des schönen Scheins. Der lebendige Leib transzendiert diese Schönheit und diese Kunst. Er ist «viel höher als ein Kunstwerk» (KOA XIII,251). Diesen Leib nennt Nietzsche auch den «hohen» (KGA VI,1;234) oder den «höheren» (KOA XVI,141) Leib. Zarathustra preist ihn als «schönen, sieghaften, erquicklichen» Leib, «um den herum jedwedes Ding Spiegel wird», und als «geschmeidigen, überredenden Leib», als «Tänzer, dessen Gleichnis ... die selbst-lustige Seele ist» (KGA VI,1;234). Nietzsche spricht die Vermutung aus, dass Menschen von so vollkommener und wohlgeratener Leiblichkeit an sich selber «eine Art Vergöttlichung des Leibes» (KOA XVI,388) empfinden und sich ganz und gar «als eine vergöttlichte Form der Selbst-Rechtfertigung der Natur» (a.a.O. 389) fühlen. Die Schönheit, die alle bisherige Kunst transzendiert, mündet in die Apotheose des Leibes in seiner Lebendigkeit.

Kunstfähigkeit des Hässlichen

Ist einer dieser Rechtfertigungsversuche für uns heute wichtig geworden?

Die Rechtfertigung der Hässlichkeit ist im 20. Jahrhundert ganz anders erfolgt, als Nietzsche sie entworfen hat; keineswegs nur ästhetisch als Anreiz zum schönen Schein, sondern auch moralisch als Zeugnis der Wahrhaftigkeit, existentiell als Bezeugung der anarchischen Freiheit und handwerklich als experimentelles Spiel. Ungefähr alles, was bis zu Nietzsches Tod als ästhetisch hässlich galt, ist nach seinem Tod in die Künste integriert worden: die Häufung der Dissonanzen bis in ihre Dominanz, die Deformation der Gestalten bis zur Unkenntlichkeit, die Auflösung des Sinns bis zur Leere, die Zertrümmerung des Werks bis an die Grenzen des Zufalls und die Anstössigkeit der Stoffe bis zum Ekel. Das «Wunder der Wunder», das dabei geschah, bestand nicht darin, dass das Hässliche ein Schöneres hervorzauberte, sondern dass es selber zum Schönen verzaubert wurde, also in der Erfahrung, dass das Hässliche von gestern sich so oft als das Schöne von heute erwies. Die ästhetische Rechtfertigung des Hässlichen liegt in seiner Kunstfähigkeit.

Die ästhetische Rechtfertigung der Welt als «sich selbst gebärendes Kunstwerk» trägt, wie schön sie auch immer sein mag, den Mangel aller ästhetischen Rechtfertigungen in sich. Sie entbindet den Menschen von jeder sozialen, politischen und moralischen Verantwortung und überschätzt die heilsame Wirkung der Kunst masslos, weil sie die entgegengesetzten Einwirkungen ebenso sehr unterschätzt oder gar ausser acht lässt. Die Wirkungen der Kunst sind generell nicht abschätzbar. Gerade weil Kunst zweckfrei sein möchte, eignet sie sich zur vielfältigsten Verzweckung, so dass niemand mehr ihre Wirkung in den Interessefeldern der Welt auf eine Dimension reduzieren kann. Wenn man aber den Kunstbegriff so stark erweitert, wie Nietzsche es tut, hat man es letztlich mit einer anonymen Macht zu tun, der «Künstlerin Natur», die so harmlos und gütig und musisch kaum sein dürfte, dass sie jemals die Welt wie ein gesamtverträgliches Konzert leiten wird. Wer einen Blick auf das 20. Jahrhundert wirft, wird schwerlich auf den Gedanken kommen, diesem Konzert soeben beigewohnt zu haben, und vermutlich auch nicht auf den Gedanken Nietzsches: «Nur die Kunst vermag uns zu retten.» Die Kunst hat – stellenweise – auf vergleichbare Weise versagt wie die Metaphysik und die Philosophie.

Unvergleichlich erfolgreich war und ist indes die ästhetische Apotheose des Leibes, allerdings als Fetischisierung. Sie hat durch die Möglichkeiten der Medialisierung die Alltagskultur im 20. Jahrhundert quer durch alle Schichten geprägt, vor allem in der industrialisierten Welt: Der nackte Leib, der bekleidete Leib; der tätowierte Leib, der bemalte Leib, der gepiercte Leib, der durch plastische Chirurgie umgeformte Leib und neuerdings die «Körperwelten» als Präparate – sie alle sind medial jederzeit abrufbar, in der ästhetischen Normenvarianz der Kulturen unserer Zeit: schön und hässlich und abstossend und anstössig und harmlos – je nach Geschmack und Bedürfnis. Aber die blühende Leiblichkeit, von der Nietzsche ergreifend – oder soll man sagen: illusorisch - spricht, kommt dabei nicht zum Vorschein, sondern eine auf zwei Dimensionen reduzierte Simulation: blosse Gesten der Oberfläche, für die es die innere Schönheit des Leibes gar nicht gibt.

Man könnte in dieser Reduktion der Leiblichkeit auch eine neue Verachtung des Leibes sehen. Nietzsche wäre dann zweifellos ihr erbarmungslosester Kritiker.

Festrede, gehalten im Basler Münster am 22. Oktober 2005, an der 100-Jahr-Feier der Musikakademie Basel.


*) Siglen

KGA
Nietzsche: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Weitergeführt von Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi. Walter de Gruyter Berlin/ New York

KOA
Nietzsche’s Werke. Kleinoktav-Ausgabe. Alfred Kröner Verlag in Leipzig

SWA
Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hrsg. von Karl Schlechta. Carl Hanser Verlag München

ibid.
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