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Artikel vom 28.10.2004

Glosse

Die Friedfertigen werden erschossen!

Was tun, wenn man nachts abgeholt wird, um auf freiem Feld erschossen zu werden? Gedanken nach einem Hörspiel auf Radio DRS II

Von Jürg-Peter Lienhard

Wenn ein paar hundert unbewaffnete Menschen einem knappen Dutzend Verbrecher mit Maschinenpistolen gegenüberstehen, wäre es für die vielen Unbewaffneten ein leichtes, sich auf die Verbrecher zu stürzen und den Massenmord abzuwenden. Doch das würde einigen unter den Unbewaffneten das Leben kosten, das ihnen sowieso grad genommen werden soll.

Niemand also macht den Anfang, auch wenn allen bewusst ist, dass in wenigen Minuten für alle alles aus ist. Vielleicht schätzen die Zögerlichen die wenigen Minuten Leben höher ein, als die Ungewissheit, ob sie beim Massenangriff auf die Verbrecher überleben?

Eine schreckliche Situation, ein kaum vorstellbares Dilemma. Und doch hat es sich so zugetragen - knapp zwei Flugstunden von hier in Europa! Im Juli 1995 - das war also grad gestern! - sind 7000 muslimische Jungen und Männer aus der UN-Schutzzone Srebrenica verschleppt und in einer systematisch betriebenen Aktion umgebracht worden. Ähnlich, wie oben beschrieben!

Die schrecklichen Ereignisse hat hierzulande «niemand» vom Stuhl gerissen. Als Kriegsverbrecherinnen und Kriegsverbrecher im ehemaligen Jugoslawien dingfest gemacht und in Den Haag vor Gericht standen, war dies wiederum hierzulande eine Nachricht, wie etwa das 253. Todesurteil in Texas - nämlich déjà vu: das ist eben weit weg!

Ein Junge, der das Massaker in Srebrenica schwerverletzt überlebte, berichtete, dass «die Erschiessungen stundenlang dauerten»: Während Stunden wurden neue Lastwagenladungen Männer und Jugendliche herangekarrt und von ein paar kleinen Kommandos erschossen.

Einer dieser Verbrecher schilderte, wie er sich über die Blase an seinem Zeigefinger wunderte, die er sich durch das stundenlange Abdrücken seiner Kalaschnikow holte - die einzige «Wunde», die den von ihm verübten Massenmord hinterliess…

Wie banal. Und doch ist dies Banale das wahre Gesicht des Faschisten! Er hat keine «höhere Rechtfertigung» vorzuweisen; er tötet wie er in einen Apfel beisst. Und in einen Apfel beissen ist ja etwas gar Gewöhnliches, worüber doch niemand ernsthaft einen Gedanken verschwendet. Wenn da nur die Blase am Zeigefinger nicht wäre…

Doch Dichter und Künstler übersehen solche Blasen nicht - ja sie werden geradezu deretwegen aufmerksam: Eine Blase am Zeigefinger ist eben das kleine Steinchen am Ende, das dem Domino den Schupf gibt. Das Labile des Domino-Spiels ist dem Leben abgeschaut. Oft braucht es nur einen kleine Stupf, damit «normale» Leute zu Menschenverbrechern werden.

Anlass zu diesen Gedanken gibt das Hörspiel auf Radio DRS II vom Mittwoch, 27. Oktober 2004, mit dem Titel «Ein Tag im Leben», verfasst von Slavenka Drakulic. Die kroatische Schriftstellerin hat fünf Monate lang die Kriegsverbrecherinnen- und Kriegsverbrecher-Prozesse in Den Haag beobachtet, hat an Verhören teilgenommmen und eine grosse Zahl von Vernehmungsprotokollen gelesen. Auf der Grundlage dieser Protokolle hat sie das Massaker von Srebrenica aus der Sicht von zwei unmittelbar Beteiligten noch einmal nacherzählt: diejenige eines Kriegsverbrechers und diejenige eines Kriegsopfers.

Das Schrecklichste an diesen Erzählungen ist die Form der Aussagen: Angesichts des Todes und der zu Tötenden haben beide Protagonisten dieses Hörspiels Wahrnehmungen, die trotz der Greuel sogar kontemplativ erlebt worden sind. Poesie eben… - auch wenn sie sich erst in den Verhörprotokollen niederschlägt.

Und dann der scheinbare Fatalismus der zum Getötetwerden aufgereihten Männer: Einzelne Stimmen, die zur Gegenwehr bereit wären, verstummen durch die Stoik der zur Exekution angetretenen Gefangenen. Friedfertigkeit bedeutet eben Friedfertigkeit bis in den Tod!

Die Erzählungen über «Srebrenica» zeigen, dass die meisten Menschen friedfertig sind, Gewalt zivilisiert haben und daher nicht mit der Arglist ausgestattet sind, die Verbrecher eben zu Verbrechern machen.

Diese Abwesenheit der «Arglist», oder besser gesagt, des Misstrauens, von friedfertigen Menschen kann sich nur schon durch eine Handvoll Verbrecher terrorisieren lassen. Ein friedfertiger Mensch sagt in der Stammbeiz einem vollmundigen Rechtspopulist nicht: «Hau ab!», sonst wäre er nicht friedfertig, weil er weiss, dass das eskalieren kann und er gezwungen würde, seine Friedfertigkeit abzulegen.

Srebrenica liegt etwa 16 Bahn- oder zwei Flugstunden von hier immerhin in Europa. Etwa gleichweit wie Hamburg. Aber auch hier könnten wir Leute treffen, die sich eine Blase holen könnten, die schon heute gerne im Kleinbasel oder im St.-Johann eine Razzia durchführen würden. Wer Frieden sichern will, muss halt eben einer sein, der im richtigen Moment «Hau ab!» sagen tut. Denn Friedfertige werden erschossen!

Von Jürg-Peter Lienhard



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