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Artikel vom 20.11.2015

Ottokars Cinétips

Verabschiedung

Ottokar Schnepf verabschiedet sich vom Filmjournalismus

Interview mit dem ältesten Filmjournalisten der Schweiz zu seinem «Leben für das Kino»

Von Redaktion



Ottokar Schnepf, Filmjournalist für webjournal.ch. foto@jplienhard.ch © 2015

Mit seinen 77 Jahren ist Ottokar Schnepf nicht nur der älteste Filmjournalist der Schweiz, sondern auch der Mitarbeiter von webjournal.ch, der seit 2003 unserem Internet-Portal gewissermassen die Stange hält. Zumal er ja selbst den ehemals in Basel berühmtesten Filmkritiker Claude R. Stange (nebst Heinrich Burckhardt) als einen seiner beiden Mentoren bezeichnet. Nun hat sich unser Ottokar Schnepf altershalber und leider auch als einer der «letzten Mohikaner» unserer hervorragenden Autorenschaft entschlossen, sich aus der aktiven Publizistik zurückzuziehen. Für Mehr hier klicken:

Ottokar Schnepfs Filmjournalismus ist nicht nur für das webjournal.ch, sondern für die ganze Bevölkerung in der Region Basel und weit darüber hinaus ein Riesenverlust an Qualität in der Filmpublizistik. Denn seine unbestechlichen Kritiken, oft mit etwas Sarkasmus gewürzt, aber nie unbegründet abwertend und stets aus der Sicht des engagierten, leidenschaftlichen Filmliebhabers, allein für den Film geschrieben, konnten in allen Fällen blindlings als Empfehlung oder als Verzicht geglaubt werden. Blindlings, sage ich nochmals, selbst dort, wo ich mal da oder dort ein anderes Empfinden hatte. Denn Schnepf betrachtete Film als bewegte Bilder und fortlaufende Handlung vor grosser Landschafts-Kulisse und auf Breitleinwand-Format statt auf TV-Bildschirmformat gequetscht. Für ihn galt gefilmtes Kammerspiel, das geradesogut auf einer Guckkasten-Bühne gespielt hätte sein können, eben nicht als grosses Kino in der Tradition der grossen Filmschaffenden.

Ich habe ihn gebeten, zum Abschluss seiner Filmpublizisten-Karriere in einem Interview seine Eindrücke von früher und von heute zusammenzufassen, wofür er gerne und eben im Sinne des guten Films und des guten Filmjournalismus sich zur Verfügung stellte. Seine enorme Erfahrung auch als Mitgründer des sagenhaften und leider verflossenen «Le Bon Film»-Filmclubs bietet eine enorme Fülle von Einsichten und Erkenntnisse, weshalb wir ihm so viel Platz einräumen.

Was er im Interview aus reiner Bescheidenheit unterlassen hatte, will ich hier noch etwas verdeutlichen. Insbesondere was seine Zeit als Mitwirkender bei «Le Bon Film» betrifft: Es war eine eigentliche Pioniertat, wie er sich dafür einsetzte, dass die damals von dummen, kirchlich-fundamentalistischen Saubermännern und von bildungsmässig beschränkten Polizisten (!) zusammengesetzte Film-Zensur in Basel langsam, aber sicher ihre Berechtigung verlor. Denn diese Amateur-Kommission trachtete danach, grossartige Filmwerke der gebildeten und interessierten Öffentlichkeit vorzuenthalten aus ideologisch-moralischer und abwegiger Blindwütigkeit. Die in den öffentlichen Basler Kinos verbotenen Filme liefen dann immerhin rechtlich unbehelligt in der geschlossenen Gesellschaft des Filmclub «Le Bon Film»: Zum Beispiel Sergio Corbuccis Italo-Western mit Klaus Kinsky und Jean-Louis Trintignat. Oder Ingmar Bergmans «Das Schweigen», oder Roman Polanskis «Das Messer im Wasser», oder, oder… alles Filme, die zu Klassikern des Films wurden!

Immerhin konnte ich 1965 in der Beilage der «Basler Nachrichten», dem «Blickpunkt der Jungen», in einer ganzseitig aufgemachten Diskussion, unterstützt vom Intellektuellen Claude R. Stange, dem Evangelikaner Neidhardt in völlig unbekümmerter jugendlicher Offenheit meine vernichtende Meinung kundtun. Die Zensurbehörde, die auch so dümmlich-naive Aufklärungsfilme wie jene von Oswald Kolle in der Stadt verbot (die dann wegen dieses Basler Verbots in Binningen oder Birsfelden usw. die dortigen Kinokassen wochenlang füllten), musste nach 1968 dann gottseidank endgültig die Fahnen streichen. Allerdings fehlte aufgrund ebenso evangelikalem Moralinum des jetzigen sogenannten Regierungs-Präsidenten Guy Morin nicht viel, als dass 2005 wiederum in der Stadt Basel eine Zensurbehörde eingerichtet hätte werden sollen. Nach gemeinsamer Vorsprache von Ottokar Schnepf und mir, liess er das reaktionäre Ansinnen wieder fallen. Zumal er riskiert hätte, sich weltweit erneut der Lächerlichkeit preiszugeben, weil ja jede Filmproduktion, und sei sie noch so miserabel, eben vom Netz runtergeladen oder im nahen Ausland auf DVD gekauft oder in den nachbarlichen Kinos konsumiert werden kann…

Hiermit haben jedenfalls die Leser von webjournal.ch erstmals erfahren dürfen, was der baselstädtischen Filmkultur geblüht hätte, wenn Ottokar Schnepf in Zusammenarbeit mit webjournal.ch sich nicht vehement gegen neuformulierte Ansinnen für eine wie auch immer anmassende Bevormundung der erwachsenen oder jugendlichen Filmkonsumenten gewehrt hätte.

Aber nun gebe ich Ottokar Schnepf das Wort und Gelegenheit zu Antworten der Fragen, die ich ihm als Editor von webjournal.ch stellte.



Ottokar Schnepf mit seinem Filmbuch, das er im Eigenverlag herausgibt. Allerdings brachte er das bedauerliche Kunststück fertig, weder Seitenzahlen noch Inhaltsverzeichnis mitdrucken zu lassen… Immerhin ist der Inhalt aber sehr lesenswert! © foto@jplienhard.ch 2015


Editoriales Interview mit dem Filmjournalisten Ottokar Schnepf.

J.-P. Lienhard: Wir kennen uns schon seit über 40 Jahren. Schon damals warst Du ein eifriger Kinogänger und erzähltest in der «Hasenburg» und in der «Rio-Bar» über Filme. Woher kam das Interesse für das Kino?

Ottokar Schnepf: Es waren die Billy-Jenkins-, Tom-Mix- und Jerry-Cotton-«Groschenheftli» vom Kiosk, die das Interesse an Western- und Crime-Stories in mir weckten. Ich wollte diese Helden auf dem Papier auch auf der Leinwand sehen. Deshalb schwänzte ich 1954 während meiner Lehre als Schriftsetzer nachmittags die Gewerbeschule und besuchte das Kino Union im Kleinbasel. Dort bestand das Filmprogramm jede Woche neu aus zwei Filmen, einem Western und einem Krimi. Deshalb nannten wir das Union «Revolverküche».

J.-P. L.: Filme anzusehen genügte Dir aber bald nicht mehr. Du hast schon kurz nach der Lehre auch über Filme geschrieben. Wie hat das begonnen?

O.S.: Meine Schriftsetzerlehre absolvierte ich bei den Basler Nachrichten. Somit hatte ich früh Kontakt mit Zeitungsredaktoren, die damals beim Umbruch der einzelnen Zeitungsseiten persönlich dabei standen und jeweils die gewünschten Schriftgrössen der Titel und Texte bestimmten. Nach Abschluss der Lehre begann ich dann meine Tätigkeit als Zeitungsmetteur beim von den Gebr. Greif gegründeten Gratisanzeiger doppelstab. Und weil von Hans Jenny wöchentlich eine Theater-Kritik erschien, wollte ich unbedingt auch einen Beitrag über Filme schreiben. Und schon nach kurzer Zeit durfte ich an den Pressevorführungen in den Kinos dabei sein und lernte die beiden Filmkritiker Heinrich Burckhardt (Kürzel «bu») von der National-Zeitung und Claude-Richard Stange (Kürzel crs) von den Basler Nachrichten kennen. Diese beiden anerkannt hochkarätigen Filmkenner wurden meine Mentoren, vermittelten mir nach jedem Film ihre Eindrücke und deckten mich mit Film-Literatur ein. So wurde ich über die Jahre vom Autodidakt zum Kino-Profi. Ab dem Jahr 1963 sollte ich keinen Film mehr verpassen, der in den Basler Kinos gezeigt wurde.

J.-P. L.: Was verstehst du unter Filmprofi?

O.S.: Damit meine ich ein gewisses Allgemeinwissen über den Film, das ich mir angeeignet habe. Dazu gehört die entsprechende Literatur über die Filmgeschichte, die Filmtechnik, das Drehbuchschreiben, die Regieführung, die Filmmusik, die Kameraführung, den Schnitt und anderes mehr, das man wissen sollte, will man einen Film be- oder verurteilen. In den vergangenen 100 Jahren hat der Film sich immer wieder verändert. Vom Stummfilm zum Blockbuster, das hat negative und positive Filmspuren hinterlassen. Und dank Le Bon Film konnte ich wichtige Werke der Filmgeschichte sehen.

J.-P. L.: Du erwähnst den Filmclub «Le Bon Film», warst Du nicht damals im Vorstand?

O.S.: Ich war jeweils bei der Programmauswahl mit dabei. Diese Sitzungen fanden in meiner Wohnung an der Feldbergstrasse statt und verliefen nicht immer problemlos. Mich störten vor allem die zu vielen politisch einseitigen Filme aus den Ostblock- und Drittweltländern. Ich wollte auch die Mainstream-Filme im Programm vertreten haben, wie zum Beispiel amerikanische und die französischen film noir, die ich noch vom Kino Union in bester und positiver Erinnerung hatte. Zu einem Eklat kam es im Jahr 1968, als ich den Italo-Western Il grande silenzio mit Klaus Kinski und Jean-Louis Trintignant im Programm haben wollte. Ich hatte den Film zuvor im Kino Palace gesehen, bevor er nach wenigen Tagen von der Zensur in Basel verboten wurde. Heute zählt Sergio Corbuccis Western als der Klassiker unter den Italo-Western.

J.-P. L.: Seit mehr als 50 Jahren besuchst Du jeweils über Mittag die dann angesetzten Pressevorführungen in den Kinos. Hast Du eine Ahnung, wieviel Filme Du überhaupt schon gesehen hast?

O.S.: Darüber habe ich noch gar nie nachgedacht, aber es dürften so gegen 20’000 sein, wahrscheinlich sogar mehr. Eigentlich eine unvorstellbare Menge.

J.-P. L.: Welcher Film ist für Dich der beste Film, den Du gesehen hast?

O.S.: Da kann ich mich nicht einfach für einen Film entscheiden. Denn der Film ist eben ein sehr komplexes Medium, das diverse Genres hervorbrachte. So gibt es Historienfilme, Kriminalfilme, Kostümfilme, Science-Fiction-Filme, Western- und Horror-Filme, Komödien, um nur einige Richtungen zu erwähnen. Also, ich habe mehrere tausend grossartige Filme auf der Kinoleinwand gesehen. Sie aufzuzählen, würde hier den Rahmen sprengen. Jedenfalls gibt es weit mehr sehr gute Filme, als allgemein angenommen wird.

J.-P. L.: Du bist bald so alt wie Alain Delon, der ist dieses Jahr 80 geworden. Gehört er zu Deinen Lieblingsschauspielern?

O.S.: Aber sicher, sein Jef Costello in Le samouraï ist einmalig und unvergesslich. Regisseur Jean-Pierre Melville hat Delon mit dieser Rolle zum Star gemacht.

J.-P. L.: Um nochmals Dein Alter zu erwähnen, denn Du bist wohl sicher der älteste Filmkritiker der Schweiz. Was ist die treibende Kraft, die Dich noch immer ins Kino lockt?

O.S.: Wenn ich heutzutage die Pressevorführungen besuche, sitzen nur junge Menschen im Kino. Manchmal sind es zehn bis zwölf. Von denen sind mir die meisten unbekannt und oft kommen die nur einmal. Die fragen sich, was will denn der Alte hier? Und ich frage mich, was haben die denn hier verloren? Die haben sicher noch nie einen Film von Ernst Lubitsch gesehen – im Kino. Aber ich bin täglich dabei, weil Film und Kino sind meine Leidenschaft. Und ich rechne jeden Tag damit, vielleicht etwas Neues zu erleben auf der Leinwand. Das ist zwar immer seltener der Fall, weil Personen im Film immer ungehemmter durch seelenlose Schauwerte der Technik und Effekthascherei ersetzt werden.

J.-P. L.: «Wenn ich aus dem Kino komme, muss ich mir zur Erholung zuhause einen Film ansehen, der die Bezeichnung Film auch verdient» – das war mal eine Deiner sarkastischen Worte. Was willst Du damit sagen?

O.S.: Ich muss etwas ausholen. Seit dem Beginn des neuen Jahrhunderts gibt es die DVD, ein digitales Speichermedium, das die Kinobranche konkurrenziert wie Jahrzehnte zuvor die Television. Jetzt kann man beinahe alle Filme aus der ganzen Welt zuhause in Ruhe sich ansehen. Ja und seither füllen sich meine Regale täglich mit neuen Film-DVD's. Um aber dem Kinogenuss so nahe als möglich zu kommen, schaue ich mir die Filme nicht auf dem TV-Bildschirm an, sondern über einen Beamer, der breit an die Wand projiziert, wie im Kino, also mit einer Bildgrösse von drei Meter Breite. Ganz nach dem Motto: Licht aus, Vorhang auf und Film ab.



Ottokar Schnepf mit seinem Filmbuch vor den Filmplakaten seiner geliebtesten Filmwerke. foto@jplienhard.ch © 2015


Nun also hat sich mein Filmbestand auf mehrere Tausend ausgeweitet. So wähle ich täglich, je nach Seelenzustand, einen Film aus und lass mich in die Welt des Kinos verführen. Für mich gehört das Kino nicht nur zur Kultur, es kann auch nur zur Freizeit gehören. Man setzt die Menschen ja nicht ins Kino, um ihnen etwas beizubringen, sondern um sie zu zerstreuen, um ihnen eine Geschichte auf die beste Art der Welt zu erzählen, nämlich über den Film. Und dabei Zuschauer zu sein, ist der schönste Beruf der Welt. Deswegen habe ich ihn gewählt. Die alten Filme in meiner Sammlung enthalten noch Kino-Geschichten, wie sie heute nicht mehr zu sehen sind.

Obwohl der Ausdruck «alte Filme» besagt gar nichts: Es gibt Filme, die wir gesehen haben, und es gibt Filme, die wir nicht gesehen haben, so simpel ist das. Und wenn mir im Kino lediglich Durchschnittsware vorgesetzt wird, tröstet mich zuhause eben ein alter Klassiker, zum Beispiel ein Stroheim-, John-Ford- oder Hitchcock-Film.

Zurück zu der DVD: Um das Jahr 2010 herum wurde bereits nur noch ein Viertel aller Umsätze von Film im Kino erzielt. Die Verleiher retten den Film gerade auf Kosten der Kinos. Diese kann man nicht einmal bedauern, wenn man an all die schlecht vorgeführten Filme denkt. Kurz und gut: Das Kino wurde den Verleihern zu teuer. Es wird in Zukunft lohnender sein, den Film auf DVD zu verkaufen oder ihn on demand im digitalen Fernsehen oder im Internet anzubieten.

J.-P. L.: Mir scheint, Du hängst an den Filmen von damals, gibt es für Dich keine aus der Neuzeit, die Dir auch gefallen?

O.S.: Natürlich gibt es diese Filme. Aber sie präsentieren sich eben anders, was nicht unbedingt heissen soll, schlechter. Aber individueller Ausdruck und persönliche Handschrift haben es im heutigen Kino schwer. Wenn die Autoren sich auszudrücken glauben, dann greifen sie in Wirklichkeit immer mehr auf recht grobschlächtige und sehr eindeutige Verfahren zurück, mehr billiger Sentimentalkitsch als echte Emotion. Low-Budget-Filme, man nannte sie B-Filme, entsprechen eben nicht mehr dem Zeitgeist.

Wenn man von einem Film von 5 Millionen Dollar zu einer 15-, 20- oder sogar 40-Millionen-Produktion übergeht, verliert ein Filmemacher seine Freiheit. Den jungen Regisseuren, denen ein vielversprechender Erstlingsfilm gelungen ist und die dann dank guten Kritiken nach Hollywood geholt werden, ist das nicht unbedingt bewusst. Die Filmindustrie beutet sie aus und bittet sie, an das breite Publikum zu denken.

Es gibt aber zum guten Glück Ausnahmen; es sind dies zum Beispiel Martin Scorcese, Quentin Tarantino, Joël und Ethan Coen. Doch die sind auch nicht mehr die Jüngsten der Branche. Trotzdem: Die guten alten Filme… gut sieht man sie heute wieder dank DVD, nach so viel heutigen, die man nicht wiedersehen möchte. Damit meine ich jenes Kino, das seit den 1980er-Jahren aufs Imaginäre setzt, auf Special-Effects und auf Action. Einige dieser Filme besitzen zwar echte Qualität, aber die meisten bedienen nur den Durchschnittsgeschmack.

J.-P. L.: Bin ich richtig in der Annahme, dass Du vor allem von amerikanischen Filmen redest?

O.S.: Ja, richtig. Ganz automatisch verbinde ich Kino mit Amerika. Amerika ist das Filmland par excellence. Das Kino ist amerikanisch. Es war das amerikanische Kino, das mir im Dunkeln eine unzugängliche Welt aus Schwarz und Weiss, aus Licht und Schatten vorstellte.

Doch kommen wir zum anderen Kino, zum «Kunstfilm», der in den «kult.kinos» in Basel zelebriert wird. In diese Kinos kommen keine amerikanischen Filme. Ausser es ist einer von Woody Allen. Dafür gibt es eine höchst anspruchsvolle Auswahl an Filmen aus der ganzen Welt, von Aserbaidschan bis Zypern. Kein Kino an Basels Kinostrasse, der Steinenvorstadt, würde solche Filme ins Programm nehmen. Gut also gibt es die «kult.kinos»!

Innert weniger als einer Woche habe ich dort zwei mich überzeugende Filme gesehen: Ein überwältigendes Filmdrama aus Georgien, und aus Island eine Komödie mit Tiefgang um einen Bruderzwist. Zwei kleine Meisterwerke innerhalb einer Woche, das lässt mein Kinoherz einen Gang schneller schlagen!

J.-P. L.: Was hat sich in der Basler Kinoszenen in den vergangenen 50 Jahren verändert?

O.S.: Die Basler Kinoszene hat sich in kurzer Zeit nachhaltig verändert. Bereits zu Beginn der 1980er-Jahre haben langsam aber sicher mehrere Kinos die Pforten geschlossen, vor allem jene ausserhalb der Steinvorstadt wie das Alhambra, Palermo, Scala, Palace, Odeon sowie die von vielen geliebten Reprisen-Kinos Union, Maxim, Clara. Mit den Kinos verschwanden auch die dazugehörigen Filme, in denen die dargestellten Menschen noch wichtiger waren als die sich immer mehr sich verselbständigende Technik.

Was sind all die monströsen Schauwerte der Superproduktionen mit ihren finanziellen und technologischen Ressourcen, gegen Filme mit traditionellen Erzählmustern, die einst den Charme des Kinos ausmachten? Und an Stelle von Kinopalästen, die den Theatern und Opernhäusern nachempfunden dem Publikum den Reiz des Besonderen vermittelten, stehen heute als Vorführungsräume zu bezeichnende Säle, wo man einem Warenlager ähnlich vom Glacé über Popcorn und Schokoriegel alles kaufen kann; das Kino als grosser Kiosk. Wen wundert’s, das Publikum hat sich wesentlich verjüngt, weshalb bald nur noch Filme für Kinder und Jugendliche gedreht werden… Was Ausnahme-Regisseure wie Martin Scorcese, die Coen-Brothers, David Lynch, David Fincher und andere dazu bewegt, ihre Filme fürs Fernsehen zu drehen, weil sie dabei mehr Freiheiten geniessen können.

Fazit: Viele amerikanische TV-Serien sind schlichtweg das bessere Kino.

J.-P. L.: In den Medien hört und liest man immer wieder, die Kinobesuche seien rückläufig. Hat das Kino noch eine Zukunft?

O.S.: Die Lage ist ernst aber nicht hoffnungslos. Denn die Filmverleiher, denen auch die Kinos gehören, was früher undenkbar gewesen wäre, wählen jene Kinoproduktionen aus, die hohe Einspielergebnisse versprechen. Blockbuster ist der gängige Ausdruck, und die James-Bond-Filme sind typische Vertreter dafür. Schon beim ersten Bond, Dr. No, äusserte sich 1963 der damalige Kinobesitzer Signore Ceppi händereibend: «Mit den Einnahmen dieses Films könnte ich für den Rest des Jahres das Kino schliessen.»

Das dürfte in all den Jahren mit den 23 weiteren Bond-Filmen sich nicht verändert haben. Diese Woche zum Beispiel sind die meistbesuchten Filme in der Schweiz die beiden Filme Spectre (der neue Bond) und The Last Witch Hunter. Zwei Blockbuster, über die lediglich als «positiv» gesagt werden kann, dass sie die Kinokassen füllen. So sieht die Kino-Zukunft aus. Die Lage ist also nicht hoffnungslos - für die Blockbuster-Kinos.

J.-P. L.: Den Filmverleihern gehören die Kinos, was früher undenkbar gewesen wäre. Was heisst das im Klartext?

O.S.: Die Kinos waren Privatbesitz. Die Eigentümer der Kinos bestimmten selber, welche Filme sie zeigen möchten. Untereinander hatten sie gewisse Abmachungen getroffen, um Konkurrenz zu vermeiden. So spielte das Küchlin Action- und Abenteuer-Filme. Und sicherte sich die Lizenz für sämtliche Bond-Filme. Das Kino Eldorado zeigte vor allem Filme italienischer und französischer Produktionen. Das Palace und das Odeon hatten sich auf Western, inklusive Italo-Western spezialisiert. Und in der Revolverküche Union gab es zwei Filme für den Eintrittspreis von einem: Bogart, Cagney & Co - für 1.50 das Doppelpack… Nochmals vielen Dank Willy Fromer!

Die Verleiher durften damals lediglich ihre Filme zur Vermietung anbieten und sich finanziell beteiligen an den Einnahmen. Und es war auch möglich, ganz persönlich beim Kinodirektor einen Filmwunsch zu äussern, der meistens in Erfüllung ging.

J.-P. L.: Wie war das Verhältnis zwischen Kino und Presse?

O.S.: Wir hatten mit den Kino-Besitzern und Direktoren ein eher zwiespältiges Verhältnis, auch mit den Verleihern. Letztere luden uns manchmal nach der Presse-Vision zum Mittagessen ein. Die Diskussionen drehten sich natürlich um den eben gesehenen Film. Nach einem Gourmet-Lunch im Restaurant Schützenhaus liess der leicht angeheiterte Heinrich Burckhardt den Verleiher von den Warner Bros. wissen, der Film, im vorliegenden Fall The Exorzist, gefalle ihm immer besser…

Es kam auch immer wieder vor, dass sich die Kinobesitzer persönlich bei den Zeitungsherausgebern wegen negativen Filmkritiken beschwerten. Sie drohten mit Kündigungen der Kino-Inserate, die damals noch wichtig waren für das Weiterbestehen der Kinos. Es gab ja noch kein Internet, wo wie heute jeder Bünzli seine Meinung über einen Film als relevant veröffentlichen konnte. Auch müssen heute die Kinos nicht mehr mit Inseraten und Anzeigen für ihre Filme werben. Das machen die Medien gratis und franko…

Das Erstaunliche daran ist nur: Je schlechter der Film, um so mehr wird über ihn geschrieben. Man kann das zurzeit bestens am neuen Bond-Spektakel beobachten. In beinahe jeder TV-Talkshow wird neben politischen Statements auch noch über den Bond-Film gelafert.

J.-P. L.: Was zeichnet nach Deiner Meinung einen guten Film aus?

O.S.: Ich habe dazu meine ganz persönlichen Erfahrungen gesammelt: Wenig Dialog, denn laut Meister Hitchcock hat ein Regisseur «nichts zu sagen, er hat es zu zeigen». Wenig Dialog war auch der Grund, warum Alain Delon die Rolle des Jef Costello in Le samouraï angenommen hat: «Pas un mot pendant sept minutes - après le film a commencé. Ceci me plaisait».

Ein weiteres Gütezeichen sind Eisenbahnen. Filme wie zum Beispiel Narrow Margin (1952 und 1990), Silver Streak (1934 und 1976), Shanghai-Express (1932), die ausschliesslich in einem Zug spielen, sind nie langweilig. Kommt noch hinzu, dass im ersten Film der Frères Lumière von 1896 ein Zug im Mittelpunkt steht: L’Arrivée d’un train en gare de la Ciotat, und 1903 der erste Western der Filmgeschichte von einem Zugüberfall handelt: The Great Train Robbery. Ebenfalls in einem Zug spielen Hitchcocks The Lady Vanishes von 1938 sowie 1951 sein Meisterwerk Strangers on a Train. Ich könnte noch an die hundert weitere Filme aufzählen, die in Eisenbahnen spielen, die alle das «Prädikat sehr gut» verdienen. Und hin und wieder auch Geschichten liefern: Dass Lenin 1917 in einem Sonderzug von Zürich nach Petrograd gefahren wurde, wird im 1988 entstandenen Film «Lenin, The Train» geschildert.

Übrigens haben Filme, die im Winter spielen, ebenfalls meine Sympathie. Vor allem liebe ich Schnee-Western, einer kommt hoffentlich bald ins Kino: «The Hateful Eight», von Quentin Tarantino.

J.-P. L.: Zum Schluss noch diese letzte Frage, quasi der finale Fangschuss, was das Kino angeht: Was hältst du vom Schweizer-Film?

O.S.: Diese Frage beantwortet am besten Schellen-Ursli.

J.-P. L.: Lieber Ottokar Schnepf, webjournal.ch dankt für dieses Gespräch.




Costa-Gavras in Vergessenheit geratener Film aus dem Jahr 1965 spielt ebenfalls
in einem Zug, in dem Yves Montand als Inspektor Grazziani einen Mörder sucht. Auch das Poster ist beachtenswert.





Jede Woche zwei neue Filme gab es in der «Revolverküche Union» im Kleinbasel. Doch des öftern waren sie wichtiger für die Filmgeschichte als manche Klassiker.




Damals waren die Kioske noch vor und nicht in den Kinos platziert. Der Kinobesitzer wollte nicht auch noch an der Schoggi verdienen. Heute können die Kinos ohne diesen Zustupf gar nicht überleben…




Nein, nein, Ottokar Schnepf wurde nicht katholisch mit seiner chinesischen Frau getraut. Es war das Karpfen-Essen in Seppois, wozu er vom Editor webjournal.ch für seine stets wertvollen Filmberichte eingeladen worden war. Der Erlös ging in die Armenkasse der Kirchgemeinde, und der Abbé Frédéric Martin, curé de la paroisse de Seppois-le-Bas, freute sich ob der Schweizer Franken. Man hoffe mit uns: Wie der Franken im Kasten klingt, (Schnepfs) Seele wohl dereinst aus dem Fegefeuer springt… foto@jplienhard.ch © 2015

Von Redaktion



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