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Artikel vom 07.05.2010

Bücher

Ein revolutionäres Buch

Nicht die «Architektur», sondern die Symbolik im elsässischen Fachwerk - das ist die bahnbrechende Erkenntnis aus dem neuen Werk von Marc Grodwohl «Habiter le Sundgau», das er am Sonntag, 9. Mai 2010, an der Foire du Livre in St-Louis signiert

Von Jürg-Peter Lienhard



Die Renaissance stellte den Menschen in den Mittelpunkt, was Cesariano (rechts) im Gegensatz zu da Vinci (links) korrekt wiedergibt. Illustrationen aus Marc Grodwohls «Habiter le Sundgau» und der Humanisten-Bibliothek von Schlettstadt.


Nein, es ist nicht Leonardo da Vincis Mann mit den gespreizten Armen und Beinen, der da hälftig auf elsässischem Fachwerk auf dem Umschlag von Marc Grodwohls neustem Buch «Habiter le Sundgau» abgebildet ist. Das italienische «Universalgenie» hat mit dem berühmten nackten Mann die romanische Architektur-Theorie von Vitruvius Maximus falsch interpretiert. Cesare Cesarianos «Spreiz-Mann» hingegen widerspiegelt die «neue» Erkenntnis der Renaissance, die nicht mehr Gott, sondern den Menschen ins Zentrum stellt und daher den Schnittpunkt im Bauchnabel setzt.



Umschlag des neuen Buchs von Marc Grodwohl mit Titelillustration aus Cesarianos Renaissance-Symmetrik in Übereinstimmung mit dem alemannisch-elsässischen Fachwerk.

Das elsässische Bauernhaus-Fachwerk, oder sagen wir es allgemeiner, das alemannische Bauernhaus-Fachwerk ist nicht allein als technische Holzkonstruktion anzusehen. Vielmehr steckt in ihm, vor allem in seiner späteren Bauweise zwischen 1500 und 1636, sehr viel zeitgemässe Symbolik, die den Aufbruch aus dem Mittelalter in die Renaissance und in die neuzeitliche Interpretation des Universums widerspiegelt.



Autor Marc Grodwohl mit Gabrielle Claerr-Stamm, der Präsidentin des Geschichtsvereins Sundgau «Société d'Histoire du Sundgau» bei der Buchpräsentaiton in Hindlingen. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2010


Das Thema ist zwar ursprünglich von Marc Grodwohl in seinen Feldforschungen mehrfach bearbeitet und die Ergebnisse durch andere Publikationen belegt worden. Doch mit dem politischen Abwürgen des Ecomusée d'Alsace, das er auf Anregung des Ballenberg-Initianten Max Gschwend und des Genfer Medizin-Professors Michel Fernex sowie unter Mitarbeit unzähliger Freiwilliger aufgebaut hat, sind diese Dokumente gewissermassen «beerdigt» worden.

Die von Grodwohl und seinen Mitstreitern erarbeiteten Forschungs-Dokumente über die elsässische Hauslandschaft hat die elsässische Politik durch die finanziell erzwungene «Verheiratung» des Freilichtmuseums mit dem kommerziellen Plastikpark «Bioscope» der physischen Verwahrlosung und Zersetzung ausgesetzt: Die riesige Dokumentensammlung zerfällt, und Grodwohls mehrfaches Ersuchen um Zugang wurde nicht mal von den zuständigen Beamten der sogenannten Kulturabteilung beantwortet.

Grodwohl als Ethnologe, als «selbsternannter» Bauernhausforscher - dieser Forschungszweig der europäischen Ethnologie wurde in der Wissenschaft sowieso erst von Max Gschwend und Marc Grodwohl angestossen - hatte von einem Tag auf den anderen keinen Zugriff auf seine in langjähriger Grundlagenforschung zusammengetragenen Dokumente mehr. Er stand vor der Schicksalsentscheidung Resignation oder Neubeginn.



Marc Grodwohl in seinem Element während seiner Führung am 24. April 2010 in Hindlingen mit Mitgliedern der «Société d'Histoire du Sundgau». Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2010


Marc Grodwohl entschied sich für Neubeginn, was aber hiess, er musste alle Unterlagen neu erarbeiten. Und natürlich konnte er auf die Mithilfe seiner früheren Weggenossen, allen voran der frühere Architekt des Ecomusée d'Alsace, Therry Fischer, sowie zahlreicher geschichts- und kulturbewusster Köpfe aus früherer und jüngerer Zeit zählen. Viele davon sind in der «Société d’Histoire du Sundgau» aktiv.

Dieser Geschichtsverein des Sundgaus ist denn auch Auftraggeberin und Herausgeberin der neusten Publikation von Marc Grodwohl, die er ohne sein im Ecomusée d'Alsace verrottendes Archiv verfasste und - wie könnte es anders sein -, neue Aspekte der elsässischen Hausforschung beleuchtet: Symbolik und Systematik des Fachwerkes, die er an den wenigen, aber gleichwohl repräsentativen Häusern nachweist, die in der Zeit vor dem Dreissigjährigen Krieg, in der Renaissance zwischen 1500 und 1636 gebaut worden waren.



Diese charakteristische Laube in Hindlingen am Haus des Italo-Elsässers Pasquale De Marco hat den Dreissigjährigen Krieg überstanden. Der engagierte Heimatschützer hat sein Haus liebevoll restauriert und das Dach mit neuen, dafür stilgerechten Biberschwanzziegeln aus Laufen versehen. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2010


Die bedeutendste Region im Elsass, die diese fürchterliche Zeit der Zerstörung und des Mordens teilweise überstand, war der Süden des Sundgaus. Hier gab es einzelne Dörfer, die unbehelligt blieben und wo die Siedlungsgeschichte und die Entwicklung des Hausbaus sehr gut erforscht werden konnten.

Wichtigste Erkenntnis ist: Der technische Teil ist nur ein Aspekt. Vielmehr spiegelte der bäuerliche Hausbau das religiöse und weltanschauliche Verständnis der breiten Gesellschaft wieder. Das war nicht nur bei den grossen sakralen Bauten oder bei den reichen Adels- und Bürgerhäusern so, sondern ebenso im gemeinen Bauernhaus. Die epochalen Denkweisen und das Selbstverständnis der Menschen fanden auch auf dem Land ihren geistigen Niederschlag und damit in der Architektur der Behausung.

Wenn man diese Elemente aus Grodwohls Buch erfährt, gewinnt man die Erkenntnis, dass in der damaligen Zeit Religion und Weltanschauung das Leben der Menschen zentral bestimmte, aber diese Lebensweise allein mit den heutigen Augen beurteilen zu wollen, sie gar als «unterentwickelt» oder auch «rückständig» anzusehen, grundfalsch ist. Vielmehr müssten wir uns mit dem Blick auf diese Zeit und deren Architektur einige Fragen zu unserer Lebensqualität gefallen lassen…



Marc Grodwohl beantwortete im Anschluss an die Führung in Hindlingen die vielen interessierten Fragen der Teilnehmer der Buchpräsentation. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2010


Besuchen Sie die «Foire du Livre» am Wochenende vom 7. bis 9. Mai 2010, in Saint-Louis und den Stand der «Société d’Histoire du Sundgau», wo Marc Grodwohl am Sonntag, 9. Mai 2010, sein neustes Werk signiert.


Information

Foire du Livre in Saint-Louis, Place Gissy, Freitag, 7., bis Sonntag, 9. Mai 2010

Öffnungszeiten:

Freitag 14 bis 20 Uhr
Samstag 10 bis 19 Uhr
Sonntag 10 bius 18 Uhr


Eintritt frei, Restauration




Marc Grodwohl - wie könnte es anders sein - entschied sich für Neubeginn. Es ist nicht das erste Mal in seiner Karriere: Nach den ersten Erfahrungen als Student bei der Restauration des Gerichtshauses von Lutter in den Semesterferien von 1973, machte er sich im darauffolgenden Jahr in Gommersdorf daran, die Einwohner des Sundguer Strassendorfes dazu zu bewegen, die einzigartige giebelseitige Strassenfront durch Freiwilligenarbeit zu erhalten. Die Häuser waren von den Besitzern eh meist aufgegeben worden und warteten auf den Abbruch. Doch mit dieser Initiative erwachte im Dorf ein neues Bewusstsein, das bis heute anhält. Eines der ersten Projekte, das Weberhaus, ist noch heute eine extrem besuchte Beiz, die als Spezialität den Flammeküechà aus dem Holzofen anbietet - (ohne Reservation keine Chance: «L’Auberge du Tisserand» 0033 3 89 07 21 80).




Gaststube in der «Auberge du Tisserand» in Gommersdorf. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2010


Zitat aus der Weltliteratur

Albert Bitzius alias Jeremias Gotthelf in «Kurt von Koppigen»: «Aber Gott will auch, daß der Mensch betrachte die vergangenen Zeiten; nicht als Eintagsfliege ohne Zukunft hat Gott den Menschen geschaffen, und wer die ihm geordnete Zukunft genießen will, muß sich dazu stärken an der Vergangenheit.»

PS des Editors: Wegen Umzugs erscheint ein ausführliches Interview mit Marc Grodwohl erst im Juli 2010 - dafür mit vielen Illustrationen.

Von Jürg-Peter Lienhard



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