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Artikel vom 25.03.2010

Basel - Kultur

Das Elend in den Basler Kinos

Kritische Gedanken zum Kinofilm und zur Filmkultur von Ottokar Schnepf

Von Redaktion



Filmjournalist Ottokar Schnepf mit seinem Buch über die Filme, die er in Basel gesehen hat, posiert vor Filmplakaten ebendieser Filme. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2010


red.- Wie es um die Filmkunst bestellt ist, kann man nicht nur an den Kino-Programmen ablesen, sondern auch daran, wie die Medien mit dem Film umgehen. Insbesondere die Publikums-Medien beschäftigen Leute, deren Allgemeinwissen lediglich aus Boulevard-Blättern genährt zu sein scheint.

Wer die Telebar auf telebasel vom 18. März 2010 gesehen hat, staunte zwar über die Ahnungslosigkeit des blutjungen und filmfachlich völlig unbedarften TV-Moderators, der unseren Filmjournalisten Ottokar Schnepf zu dessen Filmbuch befragte.

Doch irgendwie scheint es symptomatisch, dass dieses Basler Boulevard-TV das Thema Filmkunst medialen Milchbubis überlässt: Es schraubt wie das Kinogewerbe die Ansprüche für ein stets jünger werdendes Publikum auf pädomorphes Niveau. Weil die Kultur ganz allgemein beim breiten Publikum keine besondere Wertschätzung geniesst, lohnt es sich für die Redaktion nicht, sich der Filmkultur kompetent durch gebildete Mitarbeiter zu widmen.

Wir bieten darum unserem Filmjournalisten Ottokar Schnepf Gelegenheit dazu, sich auf webjournal.ch vertiefter darzulegen, was er unter guter Filmkultur und Filmkunst versteht und warum er dem grossen Kino von einst in seinem beruflichen Leben so viel Zeit und Aufmerksamkeit schenkte.


-- Von Ottokar Schnepf --

Nicht zum ersten Mal war ich kürzlich Gast an der Telebar auf telebasel. Musste ich vor 15 Jahren den Fragesteller überzeugen, dass noch immer hin und wieder gute und sehenswerte Filme in den Kinos gezeigt werden, bemühte sich ein junger TV-Journalist diesmal, den Fernsehzuschauern den Kinobesuch schmackhaft zu machen mit dem Schlusssatz «Gehen sie ins Kino, es gibt noch immer gute Filme». Damit meinte er natürlich auch «Avatar», den ich mit dem Satz: «Das ist für mich kein Film, lediglich ein technisches Spektakel» abservierte.

Auf Fragen wie: «Was ist ein guter Film ?» oder «Wie macht man einen guten Film ?» oder «Sie sind kein Schauspieler, warum aber Kritiker?» konnte ich in dem fünf Minuten dauernden «Interview» nicht eingehen. Nicht begriffen hat mein Gesprächspartner, warum in meinem eben veröffentlichten Buch Filme aus den Jahren 1940 bis 1970 vorgestellt werden - und nicht solche von heute.

Ich fokussierte auf diese Epoche, weil die in diesen Jahren entstandenen Filme damals in Basler Kinos gespielt wurden, die inzwischen ihren Betrieb eingestellt haben. Es mag erstaunen, dass das 17 Kinos sind. Das stimmt einen alten Kinogänger schon etwas traurig. Auch ist dieses Buch nicht den jugendlichen Kinogängern von heute gewidmet, sondern denen von damals, als der Kinobesuch genauso wie ein Theater- oder Konzertbesuch zelebriert wurde.



Katherine Hepburn und Cary Grant in Howard Hawks Screwball-Komödie par excellence: «Bringing Up Baby» von 1938.


Von Cary Grant zu Ben Stiller

Hier nun einige Beweggründe, warum ich die meisten Filme von heute weniger gut bis unzumutbar finde. Dabei mag sicher auch eine Rolle spielen, dass ich als 72-Jähriger zu den vor allem für die Jugendlichen zwischen 16 und 25 Jahren zubereiteten Filmen keinen Zugang mehr finde. Wenn ich aber eine Komödie von heute mit einer Screwball-Comedy von damals vergleiche, dann ist bereits nach zehn Filmminuten klar, wer die Pluspunkte einheimst.

Da fehlt bei den heutigen Komödien eben ein Ernst Lubitsch, ein George Cukor, ein Billy Wilder oder ein Howard Hawks, um nur einige der Regisseure zu erwähnen, die mit den Stars von damals - von Greta Garbo, Joan Crawford, Kathrine Hepburn und Co. plus Clark Gable, Spencer Tracy, Cary Grant und Co. - unvergessliche Höhepunkte der Kinounterhaltung auf die Leinwand zauberten. Dagegen kommt keine Ben-Stiller-«Komödie» und auch keine der Farelli-Brüder an, bei denen man nicht lachen kann, weil einem das Lachen ob so viel Dummheit im Halse stecken bleibt.



Alfred Hitchcock, einer der grössten Filmkünstler, den die Filmgeschichte hervorgebracht hat.


Ein Stück Kuchen

Und wo sind denn heute die spannenden Kinogeschichten, wie sie uns einst Alfred Hitchcock und viele andere seiner Regie-Genossen mit Bravour servierten? An Stelle solcher Thriller bemühen sich heute die Filmschaffenden auf Biegen und Brechen Realität vorzugaukeln. «Das wahre Leben haben die Leute zu Hause», erklärte Hitchcock - und weiter: «Das Kino ist kein Stück Leben, sondern ein Stück Kuchen.» Damit meinte er, man solle einen Film geniessen wie ein Stück Kuchen. Dem einen schmeckt er, dem anderen vielleicht weniger.

Auch der französische Regisseur Jean-Pierre Melville erklärte in einem Interview-Gespräch: «Ich mache nicht auf Realismus. Meine Figuren (gemeint sind die Anti-Helden Jean-Paul Belmondo, Alain Delon, Yves Montand aus seinen Filmen «Le doulos», «Le cercle rouge», «Le samouraï») sind frei erfunden und haben mit dem wahren Leben nichts zu tun.»

Es sind eben Kinogeschichten. Man kann sie auch mit Märchen vergleichen. Im Kino sind nämlich alle Mittel erlaubt, um die Zuschauer zu interessieren. Soweit List oder Spannung als Motor dient, um interessante Situationen und Bilder zu erzeugen. Oberstes Gebot nach Hitchcock: Der Zuschauer darf sich nie langweilen!

Blick durchs Schlüsselloch

Es ist die Filmsprache der Kamera und die Montage *), die ich heute in den meisten Mainstream-Filmen vermisse. Hitchcock: «Ein Filmregisseur hat nichts zu sagen; er hat zu zeigen!» Es geht eben nicht darum, eine Geschichte zu ver-filmen, sondern sie auf die Leinwand zu übertragen. Cocteau meinte treffend, das Kino sei ein durchs Schlüsselloch betrachtetes Geschehen.

Ein Übel der heutigen Filme ist jene Art von filmischer Aufzeichnung, die Hitchcock mit berechtigter Verachtung «sprechende Leute fotografieren» nannte.

Wackelkamera mit Zooms

Doch heute will man unbedingt die Realität angeblich unverhüllt zeigen, mit wackelnder Kamera auf der Schulter, mit Zooms, die Proportionen und Rhythmus zerstören; ein Kino, das reine Aufzeichnung ist und damit die Fadheit des Fernsehens (für das sie eigentlich für weitere Ausstrahlungen nach dem Kino gedreht werden) auf die Leinwand bringt, so dass man sich das Starsystem und die ganze Künstlichkeit (das rot-orange Herbstlaub in Hitchcocks «Trouble With Harry» war aus Plastik) zurückwünscht, dank derer «Sunrise» (1927 von F. W. Murnau), The Big Sleep» (1946 von Howard Hawks), «Rear Window» (1954 von Alfred Hitchcock) usw. nie aus der Mode kommen.

Hollywood ist voll von Regisseuren, die am laufenden Band Filme machen, und die es trotzdem nicht schaffen, zwei Einstellungen ordentlich hintereinander zu bringen. Ausser einigen Ausnahmen wie Roman Polanski und Martin Scorcese, zwei alte Film-Hasen, die noch immer grandiose Kinofilme drehen - die absolute Aufmerksamkeit verlangen - wie «The Ghostwriter» und «Shutter Island» (zur Zeit im Kino).



Von der Kamera und dem Publikum geliebt: Marlene Dietrich, Greta Garbo, Joan Crawford


Wo sind die Diven?

Seit Jahrzehnten gibt es keine richtigen Diven mehr, denn in dem Begriff «Diva» steckt etwas Entrücktes, Entferntes und Unerreichbares, das vor Jahrzehnten durch das Fernsehen endgültig abgeschafft wurde.

Michelle Pfeiffer, Julia Roberts, Gwyneth Paltrow, Nicole Kidman sind Stars, aber eben keine Diven wie einst Greta Garbo, Joan Crawford, Norma Shearer, Barbara Stanwyck, Rita Hayworth, Ava Gardner und andere mehr.

Abgesehen davon, wo sind eine Jeanne Moreau, Simone Signoret, Monica Vitti von heute? Weit und breit keine zu sehen, die ihnen das Wasser reichen können. Doch es fehlen daneben auch die dazugehörenden Regisseure. Für Fellini, Antonioni, Truffaut, Renoir, Bergman, Richardson, Bunuel, Visconti etc. gibt es ebenfalls keinen Ersatz.

Langweilige Dokumentarfilme

Dokumentarfilme, die früher in Sonntagmorgen-Vorstellungen gezeigt wurden, sind heute im täglichen Kinoprogramm vertreten. Vor mir habe ich eine Liste von kommenden Kinofilmen, worunter mehr Dokumentar- denn Spielfilme dabei sind. Nach Filmpionier Jean Renoir ist der Dokumentarfilm «das am wenigsten authentische Filmgenre überhaupt».

Auch François Truffaut war kein Freund dieses Filmgenres und äusserte sich darüber wie folgt: «...ein Kino, das so langweilig ist wie eine Forschertagung im Salle Pleyel.»

Darüber kann man sich zwar streiten, aber es bleibt die Frage, warum seit geraumer Zeit Dokumentarfilme, vor allem aus der Schweiz, die Kinos förmlich überschwemmen. Mich jedenfalls interessiert nicht, wie die Wohnung einer Grossmutter nach ihrem Tod geräumt wird und was für Schätze und Abfall dabei zum Vorschein kommen.

«Es soll nur niemand kommen und sagen, man müsse jedem Geschmack etwas bieten, jetzt, da wir unterhalb jeglicher Geschmacksgrenze angekommen sind» - dieser treffende Satz stammt nicht etwa von mir, sondern vom Filmtheoretiker André Bazin.

-- Von Ottokar Schnepf --



*) Für die berühmte Horrorszene in der Dusche im Film «Psycho» benötigte Hitchcock 78 Aufnahmen, die nach siebentägiger Bearbeitung schliesslich 45 Sekunden Film ergaben.


Von Redaktion



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