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Artikel vom 16.05.2009

Elsass - Kultur

Mit Fotoreportage am Schluss

Ein Spiegel der frankophonen Literatur

An der Eröffnung des 26. Jahrgangs der Buchmesse «Foire du Livre» in St-Louis (bis Sonntag, 17. Mai 2009, 18 Uhr) signierten viele der rund 300 vertretenen Autoren ihre neusten Werke persönlich

Von Jürg-Peter Lienhard



Bürgermeister Jean Ueberschlag ist Literaturkenner und Gründer der Buchmesse: Am Rednerpult an der offiziellen Eröffnung mit dem Ehrengast und Romancier Maurice Denuzière (links hinten) und dem Verleger und Messepräsidenten, Claude Durand. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Bei der offiziellen Eröffnung der Buchmesse Saint-Louis am Freitag, 15. Mai 2009, wurde wieder mal klar, wie eisern der sprachliche Vorhang zwischen den beiden aneinandergewachsenen Städten St-Louis und Basel ist: Die Veranstaltung ist rein französisch - sieht man mal von den beiden Ständen «Heimetsprooch» und «L'Alsacien est un atout pour votre enfant» ab. Und gleichwohl sind elsässische Autoren und ihre bemerkenswerten Bücher sehr zahlreich: Sogar der (nicht-elsässische) Ehrengast Maurice Denuzière, alt Chefreporter beim klassischen französischen Weltblatt «Le Monde», signierte seinen jüngsten Roman mit dem Titel «L'Alsacienne».




Wirkt stets improvisiert, dafür ist sie effizient und hat immerhin 26 Jahre überlebt: Wichtig ist, was angeboten wird, und nicht wie. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009

Fast könnte man meinen, dass jeder Elsässer und Elsässerin ein Schreiber wär, dass Lesen im Elsass für «die» Elsässer die grosse Passion sei. Immerhin vermag die Buchmesse von St-Louis während ihrer drei Tage Dauer doch rund 30'000 Besucher anzulocken. Seit 26 Jahren notabene, und Basel darf sich schämen, dass ihr angeblich stets in ihrem Schatten «schlafendes» Nachbar-«Quartier» eine Buchmesse jedes Jahr besser und attraktiver abhält, während die «BuchBasel» zunächst grossartig aufgezogen wurde, um dann im Debakel mit ungewissem Ausgang zu enden.

Allerdings ist jeder Jahrgang der Buchmesse von Saint-Louis anders und gegenüber dem Vorjahr unvergleichlich. Aber das macht die Qualität der Veranstaltung aus: Sie macht neugierig, bringt jedes Jahr von neuem bislang unbekannte Autoren oder Bestseller-Stars aus allen Ecken der französischen Welt. Sie ist Stelldichein von frankophoner Literatur und politischer Publizistik, fröhlich gemischt mit literarischem Schaffen der «Handwerker im stillen Kämmerlein» und journalistischer Dokumentation.

Da gibt es Sachen zu entdecken, und man kann mitunter überrascht feststellen, dass letztere Genres manchmal den gross angekündigten Bestsellern schlichtweg die Schau stehlen: Der Journalist André Meyer hat einen bewegenden Report einer an Parkinson erkrankten Hüninger Einwohnerin bearbeitet, die ein ausgesprochenes Erzähltalent ist und Erinnerung und ihr Kampf in der Gegenwart mit der Krankheit stilistisch hervorragend zu beschreiben versteht.



Alsatica am Stand des einheimischen Verlags der DNA: Suzanne Roth mit ihren Erfolgsbüchern, den sagenhaften Rezepten für die elsässischen Backwaren und den neuen mit Rezepten für die Restenverwertung und der elsässischen Kartoffelgerichte. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Oder der Stand «La nuées bleue». So heisst der Buchverlag der grössten elsässischen Tageszeitung «Les Dernières Nouvelles d'Alsace», der stets mit unglaublich interessanten Alsatica brillieren kann - nicht nur französisch verfassten, auch wenn die deutschsprachigen Editionen immer rarer werden. Das ist schade und zeugt von wenig kaufmännischem Mut, dem aber eben auch die Bereitschaft zu grenzüberschreitenden Kontakten und Aktivitäten zugrundeliegen muss. Wäre in Strassburg eigentlich noch selbstverständlicher, als in der Grenzecke Basel…

Am Grossstand der Edition «La nuée bleue» begegnete ich Suzanne Roth, die berühmte Verfasserin elsässischer Koch- und Backbücher, deren früheres Buch «Les Petits Gâteaux d'Alsace» ein Klassiker und anhaltender Renner ist. Sie hat wieder mit zwei Büchlein «zugeschlagen» - beide sind kleine Sensationen, wenn man interessiert an Kochen und Kochbüchern, zumal für elsässische Küche ist: Das Buch der Resten, der «Kunst des Schlemmens mit drei Mal Nichts»… Oder das andere: «'s Grumbeerebüch - 's Hardepfelbüech» (hier orthographisch richtig gesetzt): «Grumbeere» ist der nordelsässische Ausdruck für «Grundbirnen», also Erdäpfel - darum der Doppel-Titel des Rezeptbuches über elsässische Kartoffelgerichte auch im oberelsässischen Idiom «Hardepfelbuech».



Umschlag des «Resten-Kochbüchleins» mit dem Bild der bekannten Kochbuchautorin Suzanne Roth. Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


Das «Restenbuch» habe ich intensiv durchgeblättert, in der Meinung, es enstspreche meinem bescheidenen Niveau der Kochkunst. Da sah ich mich allerdings getäuscht: Was Elsässer Köchinnen offenbar aus Resten machen können, das ist für mich bereits ein Festtagsschmaus… Immerhin bedeuten im Elsass «Resten», dass tags zuvor ein dicker Sonntagsbraten auf den Tisch kommen musste. Und da ich die mehr oder weniger vorhandene Tischkultur der Eidgenossen und -innen leider nur zu gut kenne, verdächtige ich sie wohl zutreffend, dass sie den Braten lieber in der Beiz mampfen, als am Sonntag bei sich zuhause über mehrere Stunden daran zu werkeln…

Aber es soll ja Leute geben, die lesen Kochbücher wie andere Leute Krimis oder Sexheftlis… Insofern haben Kochbücher von der Qualität und Originalität von Suzanne Roth doch einen gewissen «erotischen Lesefaktor»… Oder wann haben Sie zuletzt einen «armen Ritter» verspiesen? Nicht mit blecherner Rüstung, sondern als «Zimmetschnitte»? Sie werfen doch Brot, auch wenn nicht mehr unser tägliches, fort, wenn es zu hart für ihre alten Beisserchen ist? Suzanne Roth verrät, wie man mit gestrigem Weissbrot, Milch, Zimmt, 2 bis 3 Eiern, Butter und Mehl ein herrliches Z'Nacht macht - wie die Mütter der reichen Basler damals (die darum reich wurden, weil sie Resten zu verwerten verstanden…).

Weil mir die Büchlein derart sympathisch sind, hier gleich mal ein paar Kapitel-Titel - wer da nicht Appetit bekommt? a) Aus dem Hàrdepfelbüech: Gschwellti mit Bibbeleskäs, Büreomelette, Schupfnüdle, Mülhüser Verdampfti, Roïgebràgelti, Judàpfittele, Grumbeerewurscht etc. und b) aus dem Ràschtlebüech: Katzegschrey, Pfannegschmeiss, Bràgleti Pflütte, Ilaufsuppe, Brosmesuppe, Ankebrot, Bàttelmann etc.

Allerdings muss ich ehrlicherweise noch anfügen, dass die obgenannten Titel zwar Elsässisch sind, aber das Büchlein ganz französisch verfasst ist. Ich habe hier eben hinterlistig die elsässischen Titel herausgepflückt, mit der bösartigen Absicht, dass der reiche Verlag an der Blauen-Nebelstrasse vielleicht doch auf die Idee kommt, die Büchlein auch deutsch-elsässisch herauszugeben und damit gross Kasse in Basel und vielleicht etwas weiter in der deutschen Schweiz hinein zu machen… Im Sinne von kulinarischer Entwicklungshilfe!



So genial appetitlich sieht die «Restenverwertung» nach Rezepten von Suzanne Roth aus: Schlemmen mit drei Mal Nichts…


Apropos Entwicklungshilfe: Das Basler Erziehungsdepartement will Hochdeutsch bereits für Hosenscheisser einführen, als ob wir in Basel nicht schon genug Sprach-Invalide haben, die «arbeide» statt «schaffe» oder «es schmeckt», statt «'s isch guet» sagen. Die Sprache der Kultur und der gewandten Diplomatie, zumal eine der Sprachen unseres eigenen Landes, Französisch, wird sträflich vernachlässigt. Und zwar bis obenhinaus in Akademie und Politik! Wie soll man dann erfahren, was in der Literatur unserer Nachbarn oder auch ennet des einheimischen «Röschtigrabens» vor sich geht, wie die denken und handeln und vor allem, warum?

Die Foire du Livre ist so eine Art Gelegenheit, zu erfahren, was an Intelligenz bei unseren Nachbarn abgeht, zumal wir Basler das Privileg geniessen, zu Fuss, mit dem Velo und mit dem Direkt-Bus von der Schifflände nach Frankreich gelangen zu können, auch wenn es nicht die leuchtende Stadt Paris, sondern das Herz von Saint-Louis ist, wo jetzt an der Foire du Livre in konzentriertester Form «le monde littéraire francophone» zu erleben ist.

Ein Detail ist mir schon öfters aufgefallen, und ich schaue gerne auf Details und höre sie auch heraus: Wann immer der Bürgermeister von Saint-Louis eine Rede schwingt, so schimmert eines stets durch die Zeilen: er ist Literaturkenner. An der offiziellen Eröffnung am Freitag um 18 Uhr - fürs Publikum ging die Messe bereis um 10 Uhr auf - packte ich am VHK (Vin d'honneur et de Kugelhopf) die Gelegenheit und sprach ihn darauf an: «Monsieur le député-maire, haben Sie denn all die Bücher der Autoren gelesen, von denen Sie in Ihrer Rede sprachen?» Die Antwort «Schangi» Ueberschlags überraschte gleichwohl: «Selbstverständlich, und zwar nächtelang!» Voilà, die Erklärung, warum Saint-Louis eine Buchmesse hat…

(Und als giftige Unke, frage ich mich, was denn die Basler Politiker in ihren Nächten machen - ausser schnarchen…)

Natürlich ist Bürgermeister Ueberschlag der Urheber der Foire du Livre, aber die enorme Arbeit für das Aufbieten der Autoren, die Übersicht über die gesamte französischsprachige Publikationsbranche, liegt jeweils in den Händen des Messe-Präsidenten: Claude Durand war während 30 Jahren Direktor der Editions Fayard und aussergewöhnliche Figur im Verlagsgeschäft. Er verlegte den «Gulag»-Autor Alexander Soljetschin (französisch Soljétsyne), entdeckte den späteren Nobelpreisträger Gabriel Marquez, publizierte in französischer Sprache die Memoiren von François Mitterrand, Henry Kissinger, Nelson Mandela oder Hillary Clinton. Der Träger des Médici-Preises 1979 für «La nuit zoologique» lancierte kürzlich seinen letzten literarischen Coup mit «Le monde selon K», der die Kritiker begeistert.

Nebst den jeweils rund 300 Autoren, wovon viele mindestens wenige Stunden zum Signieren ihrer Werke anwesend sind und nicht selten von weit weg oder gar von Übersee anreisen, bietet die Buchmesse jeweils mehrere Kommissionen auf, die Literaturpreise vergeben. Bescheidene zwar, die aber immerhin wichtige Anerkennung bedeuten: Je einen für weibliche und männliche Romaciers und einen für die in der französischen Welt so beliebten «bandes déssinées» - letztere gewählt durch eine Gruppe Jugendlicher.

Was die Autoren des «Jahrgangs 2009» betrifft, so müsste ich mich eben auch intensiver mit der französischsprachigen Literatur auseinandersetzen - zumal mit der aktuellen. Immerhin zeigt der Überblick im Programmheft, dass alle wesentlichen Pariser und französischen Verlage mit ihren Autoren oder wenigstens mit ihren jüngsten Werken vertreten sind, darunter Flammarion und Seuil. Bei der unglaublichen Anzahl von rund 300 Autoren und etwa gleichvielen Neuerscheinungen, wäre ein Herauspicken einzelner Bücher, ohne sie gelesen zu haben, fahrlässig.

Aber die Zahl beeindruckt, weswegen ein Besuch der Messe eben auch eine Aufforderung ist, genauer hinzugucken und sich die Autoren und ihre Bücher vorstellen zu lassen, bevor sie einem als «must» aufgezwungen werden. Darum sind denn auch verschiedene Gesprächsrunden mit Autoren und Literaturkennern auf dem Programm, so dass man dabei schon mal hinhören kann, was einem im Detail interessieren könnte.

Ach ja, nochwas: die Bücher kann man sofort kaufen. In Euro, aber dafür billiger, als im Basler Buchhandel - wenn man sie dort überhaupt finden und wohl noch weniger bestellen kann (die Grenze in Basel zu Europa ist eben ein Eiserner Vorhang)…


Fotoreportage von der 26. Buchmesse St-Louis

Alle Fotos: J.-P. Lienhard, Basel © 2009




Politische Literatur ist das Steckenpferd Ueberschlags: Der Giracist Jean-Louis Debré, Sohn des ex Premierministers Michel Debré unter de Gaulle, steht dem Bürgermeister als UMP-Vertreter nahe, aber sein Buch «Dynasties républicaines» ist in St-Louis ganz offensichtlich kein grosser Renner. Debré kam immerhin ein paar Stunden zum Signieren von Paris an die Foire du Livre hergeflogen. Maurice Denuzière, Ehrengast und konservativer Schriftsteller, war an der Eröffnung ebenfalls zugegen und signierte sein historisierendes Werk «L'Alsacienne».




Stimmungsbild vom VHK (Vin d'honneur et Kugelhopf) im rötlich beleuchteten Vortragszelt, wo die Gesprächsrunden mit den Autoren stattfinden.




Nicht nur Literatur, sondern auch aufwendig gestaltete Bildbände werden bei den Neuerscheinungen vorgestellt und erregen trotz der herrschenden Bilderflut in den Medien ziemliches Interessse.




Der Journalist Christophe Meyer präsentiert am Stand «Heimetsprooch» das Bändlein seines Grossvaters Paul-Georges Koch, Pfarrer aus dem Münstertal, der hochdeutsch schrieb und dichtete (siehe Artikel auf webjournal.ch unter >Elsass-Kultur).




Auch das ein Stand, der an der Foire de Livre Unterstand erhielt - ein nötiges, wenn auch leider wenig beachtetes Gegengewicht zur «monde francophone».




Was auch immer es für Literatur sein mag, an diesem Stand findet sie grosses Interesse: Blick von «hinten» zum Publikum.




Prominenz und alte Kameraden aus dem Elsass beim freundschaftlichen Schwatz im Messe-Café (von links): Henri Goetschy, alt Generalratspräsident Oberelsass und Förderer von Marc Grodwohl, den er als «Genie» bezeichnet; Historiker und Buchautor Vogler, alt Generalrat Weber von Cernay (früher sozialistischer Gegenspieler Goetschys), dessen Frau Christiane Meiss ein Erzählbändchen mit dem Titel «Réminiscences» an der Messe vorstellt, und Colonel Michel Buecher, alt Veterinär und Buchautor von «Le Devoir du Mémoire».

Alle Foto: J.-P. Lienhard, Basel © 2009


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Von Jürg-Peter Lienhard



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