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Artikel vom 02.11.2005

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Schmidt präsentiert

Die neue autoritäre Demokratie

Kritisiert und diskutiert werden kann beliebig – erreicht wird selten etwas

Von Aurel Schmidt



Der italienische Student Carlo Giuliani wird 2001 an der WTO-Demonstration von Genua von einem Polizisten niedergeschossen (die Hand mit der Waffe ist im Originalbild gut sichtbar) und vom Landrover der Carabinieri zwei Mal überrollt. Der Genueser Dramatiker Fausto Paravidino hat die damaligen Geschehnisse fürs Royal Court Theatre in London zu einem Theaterstück verarbeitet, das als Hörspiel vom WDR produziert den «Online-Award 2004» erhielt und im Frühjahr 2005 auch von Radio DRS II ausgestrahlt wurde. Mehr Infos siehe Link am Schluss. Foto: Untergrund-Archiv.



Wenn die Demokratie zum Hindernis für bestimmte Interessen wird, muss sie neu definiert und umgebaut werden. Frei nach Lenin: Freiheit ist gut, Bevölkerungskontrolle besser.


In Grossbritannien sollen nach dem Willen des Innenministers Charles Clarke die gleichen Gesetze gegen radikalische Tierschützer angewendet werden wie gegen Terroristen.

Das ist ein hysterischer Vorschlag, der aber eine neue politische und mentale Dimension erkennen lässt. Man kann über die britischen Tierschützer, die in der Tat gelegentlich rabiat vorgehen, geteilter Meinung sein, aber hier werden unter dem Vorwand der Sachbeschädigung einseitig die Interessen von Industrie und Forschung geschützt.

Wenn ich an die Fuchstreibjagden der englischen Jägerbanden denke oder an die Tierversuche in den Labors, kann ich die Tierschützer verstehen. Und wenn mir bestimmte Formen der Tierhaltung einfallen, bin ich geneigt, auf den Fleischkonsum zu verzichten. Vielleicht wird dieses Bekenntnis schon als «Anstiftung zu Gewalt» definiert und nach den neuen Gesetzesvorstellungen ein Delikt darstellen.

Hinter den britischen Vorschlägen verbirgt sich noch etwas Weiteres. Wir vertragen Kritik sehr schlecht. Sie stört den glatten Geschäftsverlauf – wie die Demokratie, die ebenfalls für viele (Avenir Suisse, Walter Wittmann) ein Ärgernis ist. Wir möchten uns auf sie berufen, ohne auf sie eingehen zu müssen. Geht aber nicht.

Tradition des zivilen Ungehorsams

Widerspruch und Abweichung sind Verstösse gegen das normale Verhalten. Was das auch immer sein mag. «Wir haben gehorsame Demokraten zu sein», mokierte sich Friedrich Dürrenmatt einmal.

Es kann Situationen geben, in denen Aktionen des zivilen Ungehorsams erforderlich sind. Sie haben eine würdige Tradition. Unter heutigen Begriffen wäre Gandhi ein Terrorist, weil er den Zugang zu Gebäuden behinderte.

Statt Gewalt anzuwenden soll eine sachliche Diskussion geführt führen werden. Auch Unterschriftensammlungen werden vorgeschlagen. Das ist Sand in die Augen der Ahnungslosen. Wir können diskutieren, kritiseren, petitionieren, soviel wir wollen – umsonst. Wer handfeste Interessen durchsetzen will, kommt immer ans Ziel, nicht gewalttätig, sondern mit legalen Mitteln, die so beschaffen sind, dass sie ihren vorgesehenen Zweck erfüllen. Jede Abstimmung kann gewonnen werden. Kein Kunststück, sagen Werber. Gut finanziell ausgerüstet, ist alles möglich.

Auch die Behauptung, dass Entscheidungen an der Abstimmungsurne gefällt werden müssen und nicht auf der Strasse, ist scheinheilig. Schon seit längerem entscheiden nicht mehr die Menschen über ihre Geschicke, sondern es sind anonyme Institutionen. Zum Beispiel die WTO, die World Trade Organization, gegen die keinerlei nationalstaatliche oder demokratische Beschlüsse etwas ausrichten können.

Das «Mass der Kritik» ist schnell überschritten

Dass dabei manchmal eine Ausnahme eintritt, bestätigt noch lange nicht die Regel. Als die Franzosen die zur Abstimmung vorgelegte EU-Verfassung ablehnten, herrschte Überraschung. Das war nicht nach dem Geschmack der Demokratie-Pächter gewesen, die Zustimmung angeordnet hatten.

Die Einschränkung des Verbandsbeschwerderechts ebenso wie zum Beispiel der Demonstrationsfreiheit zeigen, in welche Richtung die Entwicklung führt, auch wenn es gute Gründe gibt, Demonstrationen zu verbieten (wie auf dem Rütli). Doch für alle, die Interessen durchzusetzen haben, ist die demokratische Öffentlichkeit mit ihrer Behäbigkeit ein Störfaktor, der ausgeräumt werden muss. Die Interessenverteter wollen, wenn sie einen Entscheid gefällt haben, nicht aufgehalten werden.

Wir können alles kritisieren und über alles diskutieren, wenn nur dabei das «landesübliche Mass an Kritik», wie ein Bundesrat einmal bemerkte, nicht überschritten wird. Seither haben sich vielleicht die Manieren geändert, aber nicht die Sache.

Ein Beispiel: Der biometrische Pass

Zuletzt bestimmen sowieso die Dienst habenden Sprachpfleger, was Demokratie, Fortschritt, Reformen, Modernität, Terror, Sicherheit ist oder zu sein hat. Wer zum Beispiel gegen die Gen-Landwirtschaft eingestellt ist, schadet entweder der Wirtschaft oder dem «Forschungsstandort» oder aber er ist «nicht kompetent».

Längst sind nicht mehr Individuen die souveränen Subjekte, sondern Konzerne und Interessenverbände.

Wir sind auf dem Weg in eine autoritäre, disziplinarische Demokratie. Man könnte dafür den neuen biometrischen Pass nennen, der mit dem Argument der Sicherheit begründet wird. In Wirklichkeit dient er vor allem der Bevölkerungskontrolle. Ein totalitäres System würde damit auf der Stelle die für seine Zwecke geeignete Infrastruktur übernehmen können.

Das alles liegt auf der Hand. Man müsste nur die Teile zusammentragen, dann würde ein einsichtiges Gesamtbild entstehen. Wenn man aber nur stets von Einzelfall zu Einzelfall stolpert, wird das nie geschehen.

Von Aurel Schmidt

Für weitere Informationen klicken Sie hier:

• «GENUA 01» - das Drama als preisgekröntes Hörspiel (pdf)


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